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Full text of "Ueber die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und Angstneurose"

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Uehor  die  sexuellen  Ursachen 


der 


Von 


I)r.  Felix  Gattei, 

Nervenarzt  in  Berlin. 


Berlin  1898. 

Verlag  von  August  Hirschwald. 


NW.  Unter  den  Linden  68. 


Alle  Rechte  Vorbehalten 


Vorwort. 


Während  eines  seehsinonai  liehen  Aufenthaltes  in  Wien  bin  ich  an 
der  psychiatrischen  Klinik  des  allgemeinen  Krankenhauses  so  ausser- 
ordentlich liebenswürdig  und  gastfreundlich  aufgenommen  worden,  dass 
ich  dem  Leiter  derselben,  Herrn  Hofrat  Professor  Dr.  Freiherrn 
von  Krafft-Ebing  an  dieser  Stelle,  die  Versicherung  meiner  aufrichtigen 
und  dauernden  Dankbarkeit  aussprechen  möchte.  Ebenso  zuvorkommend 
waren  auch  die  übrigen  Herren  der  Klinik  gegen  mich,  ganz  besonders 
die  Herren  Assistenten  DDr.  Karplus  und  Infeld  und  ich  gestehe  gern 
zu,  dass,  hätten  diese  mir  nicht  das  reichhaltige  Krankenmaterial  zur 
Verfügung  gestellt,  ich  kaum  in  die  Lage  versetzt  worden  wäre,  den 
Zweck  meiner  Studien  zu  erreichen. 

Ich  bin  mir  bewusst,  dass  ich  bei  vielen  der  Herren  Kollegen,  für 
die  ausschliesslich  die  folgenden  Erörterungen  bestimmt  sind,  mit  der 
Berührung  der  Sexualfrage  auf  Widerstand  stossen  werde,  denn  vielen 
ist  es  nicht  genehm,  wenn  man  diese  in  den  Bereich  wissenschaftlicher 
Erörterung  zieht.  Hätten  alle  Forscher  vergangener  und  gegenwärtiger 
Zeiten  sich  ebenso  schnell  von  ihren  unbekannten  Aufgaben  abgewandt, 
wir  hätten  nicht  den  Stand  biologische]!  Erkennens  und  Wissens  zu  ver- 
zeichnen, wie  dies  heule  der  Fall  ist.  Oder  sollen  wir  uns,  weil  die 
Kultur  im  Laufe  der  Jahrhunderte  alles  Sexuelle  mit  einem  Scham- 
tüchlein  bedeckt  hat,  trotz  besseren  Wissens  nun  auch  davon  abwen- 
den und  Schädlichkeiten  und  Krankheiten  weiter  bestehen  lassen,  die 
wir  bei  ruhiger,  eingehender  Betrachtung  leicht  beseitigen  können? 


IV 


Vorwort. 


Wohl  bin  ich  auf  Widerspruch  bei  meinen  Erörterungen  gefasst, 
und  ich  bin  bereit  die  eventuellen  Vorwürfe  allein  auf  mich  zu  nehmen. 
Was  auch  in  den  folgenden  Blättern  geschrieben  steht,  ist  lediglich  von 
mir  ausgegangen  und  ich  möchte  nicht,  dass  die  Männer,  die  mir  das 
Material  geliefert,  in  irgend  welcher  Weise  für  meine  Ideen  und  An- 
sichten verantwortlich  gemacht  würden.  Es  hicsse  die  Gastfreundschaft, 
die  ich  genossen,  arg  missbrauchen,  wollte  ich  die  Namen  der  oben- 
erwähnten Herren  mit  in  die  Debatte  ziehen  lassen. 

Berlin,  im  Mai  1898. 


Felix  Gattei. 


IT  enn  ich  den  Leser  bitte,  mir  in  der  Littcratur  über  Neurasthenie 
etwas  rückwärts  zu  folgen,  so  thue  ich  cs  nicht,  um  vor  seinem  Ge- 
dächtnis all  die  ungezählten  Publikationen  über  diese  Erkrankung  vor- 
überziehen  zu  lassen;  denn  ihre  Zahl  ist  sehr  gross,  und  schwer  ist  es, 
hcrauszusondern,  was  einen  wirklich  bleibenden,  praktischen  Wert  hat. 
Ich  greife  zurück  auf  die  Arbeiten  von  Kaan1),  Hecker2)  und  Freud3), 
welche  den  Angstzuständen  als  einem  der  häufigsten  Symptome  der 
Neurasthenie  ihre  besondere  Aufmerksamkeit  zugewandt  haben. 

Kaan  nimmt  an,  dass  Zwangsvorstellungen  auf  Grund  hereditärer 
Degeneration  und  erworbener  Neurasthenie,  aus  Angstgefühl  entsteht; 
dass  gehäufte  Störungen  des  Gelassnervensystems  und  Parästhcsieen  die 
Angstzuständc  der  Neurastheniker  hervorrufen. 

Hecker  stellt  auch  die  Häufigkeit  der  Angstzustände  bei  Neurasthe- 
nikern fest.  Mehr  als  die  Hälfte  seiner  Patienten  ist  damit  behaftet  ge- 
wesen; teils  treten  diese  Zustände  bei  ganz  bestimmten  Gelegenheiten 
auf,  teils  entstanden  sie  spontan  ohne  eine  äussere  Veranlassung;  ver- 
schwanden, um  bald  wieder  aufzutreten.  In  manchen  Fällen  aber 
dauerten  sie  in  leichter  Form  ununterbrochen  an.  Hierbei  fiel  ihm  immer 
auf,  dass  die  verschiedenen  Angstzustände  dem  Kranken  nicht  als  Angst- 
gefühl zum  Bewusstsein  kamen,  sondern  von  ihm  auf  irgend  welche 
somatischen  Erscheinungen  bezogen  wurden;  bis  man  ihm  die  Angst- 


1)  Kaan,  Der  neurasthenische  AngstalTect  bei  Zwangsvorstellungen.  Jahrb.  f. 
Psych.  XI.  3. 

2)  Hecker,  Ueber  larvierte  und  abortive  Angstzustände  bei  Neurasthenie. 
Centralbl.  f.  Nervenheilk.  u.  Psych.  Dec.  1893. 

3)  Freud,  Ueber  die  Berechtigung,  von  der  Neurasthenie  einen  bestimmten 
Symptomenkomplex  als  „Angstneurose“  abzutrennen.  Neurol.  Ctrbl.  1895.  2. 

Gattei,  Sexuelle  Ursachen  der  Neurasthenie. 


1 


zustande  al>  solche  deutete  und  damit  wirklich  in  das  Bewusstsein 
brachie.  Hecker  schlug  hierfür  den  Namen  larvierte  Angstzustande 
vor,  „weil  der  Kranke  den  Zustand  mit  einem  andern  ihm  geläufigen 
psychischen  Zustand  verwechselt  oder  ihn  unter  hauptsächlicher  Berück- 
sichtigung eines  einzelnen,  der  die  Angst  begleitenden  somatischen  Sym- 
ptome überhaupt  für  einen  rein  körperlichen  hält“.  Nachdem  er  die 
einzelnen  körperlichen  Symptome  als  Herzklopfen,  Respirationsstörungen, 
Störungen  der  Muskelinncrvation,  Schwindel,  abnorme  Sensationen  u.  s.  w. 
untersucht  hat,  kommt  er  zu  der  Ansicht,  „dass  bei  Neurasthenie  mit 
überraschender  Häufigkeit  an  Stelle  körperlicher  Angstanfälle,  bald  dieses, 
bald  jenes  körperliche  Attribut  der  Angst,  ganz  vereinzelt  in  ausge- 
sprochenen Anfällen  auftritt,  ohne  von  psychischen  Anfällen  begleitet 
zu  sein.“ 

Unabhängig  hiervon  hat  Freud  den  Vorschlag  gemacht,  in  der 
Deutung  der  Symptome,  die  als  Angstzustand  erscheinen,  einen  Unter- 
schied zu  machen  im  Gegensatz  zur  echten  Neurasthenie  und  begründet 
diese  Trennung  damit,  dass  nach  seiner  Erfahrung  auch  die  Aetiologic 
beider  eine  getrennte  ist.  Freud  schlug  für  diesen  Symptomen  komplex 
die  Bezeichnung  „Angstneurose“  vor.  Hiermit  habe  ich  schon  gesagt, 
dass  Freud  weiter  ging  als  Hecker;  denn  während  Hecker  nur  das 
Bestehen  der  Angstzustände  und  ihr  häutiges  Vorkommen  in  inkomplctcr 
Form  hervorgehoben  hat,  ohne  nach  der  Aetiologic  zu  fahnden,  hat 
Freud  die  Angstneurose  aus  Schädlichkeiten  im  Sexualleben  abgeleitet. 
Die  Angstneurose  entsteht  in  all  den  Fällen,  in  denen  eine  Retention 
der  Libido  längere  Zeit  angehalten  hat.  Er  unterscheidet  die  Angst- 
neurose bei  beiden  Geschlechtern,  je  nach  den  einzelnen  schädlichen 
Einwirkungen  auf  das  Nervensystem  als: 

I.  a)  Angst  der  Adolcscenten, 

b)  Angst  der  Neuvermählten, 

c)  Angst  der  Frauen,  deren  Männer  an  verminderter  Potenz 

leiden, 

d)  Angst  der  Frauen,  deren  Männer  den  Coitus  interruptus 
ausiiben, 

e)  Angst  der  Wittwen  und  Abstinenten, 

f)  Angst  im  Klimakterium. 

In  die  Reihe  der  Ursachen  für  die  männliche  Angstneurose  stellt 
Freud  folgende  Formen  der  Angst: 


II.  a)  Angst  der  Adolescenten, 

b)  Angst  der  Männer  mit  frustraner  Erregung  (Brautstand), 
Furcht  vor  sexuellem  Verkehr, 

c)  Angst  der  den  Coitus  interruptus  ausübenden  Männer, 

d)  Angst  der  Männer  im  Senium. 

Als  für  beide  Geschlechter  gültig  betrachtet  er: 

III.  a)  die  Angst  derer,  die  sich  durch  Masturbation  befriedigten 

und  nach  Aufhören  der  Masturbation  die  Abstinenz  nicht 
ertragen  können, 

b)  die  Angst  nach  Uebcrarbeitung,  körperlicher  Erschöpfung, 
Nachtwachen  etc. 

Diese  letztere  Form  schien  zunächst  nicht  auf  sexueller  Basis  zu 
beruhen. 

Hier  will  ich  noch  erwähnen,  dass  Freud  mehrere  Formen  des 
Angstanfalles  unterscheidet,  bei  denen  die  somatischen  Beschwerden  im 
Vordergrund  stehen;  die  psychischen  Symptome  aber  ganz  oder  fast 
vollkommen  in  den  Hintergrund  getreten  sind.  Dies  ist  der  Punkt,  in 
dem  er  sich  mit  Hecker  trifft;  er  unterscheidet  nämlich  als  hervor- 
tretende somatische  Erscheinungen:  Störung  der  Hcrzthätigkcit,  der  Ath- 
mung,  anfallsweise  Schweissausbrüche,  Zittern  und  Schütteln,  Heiss- 
hunger, Diarrhöen,  Schwindel,  Kongestionen,  Parästhesieen.  Für  diese 
letzteren  Formen  der  Angstanfälle  schlägt  er  den  Namen  „rudimentärer 
Angstanfall  oder  Aequivalent  des  Angstanfalles“  vor. 

Nun  muss  man  aber  nicht  denken,  dass  Freud  die  Angstanfälle 
als  stets  ganz  rein  vorkommend  betrachtet,  so  dass  bei  den  Einwir- 
kungen einer  der  oben  erwähnten  Schädlichkeiten  gleich  ein  Angstanfall 
ausgelöst  wird.  Er  erkennt  vielmehr  an,  dass  die  Schwierigkeiten,  einen 
Angstanfall  rein  zu  bekommen,  nicht  unerhebliche  sind  und  derselbe  oft 
mit  Neurasthenie  verquickt  ist.  In  solchen  Fällen  aber  hat  er  beob- 
achtet, dass  beim  Vorhandensein  von  neurasthenischen  und  angstneuro- 
tischen Symptomen  auch  die  Aetiologie  eine  gemischte  ist.  Aber  die 
Symptome,  die  zur  Neurasthenie  führen,  können  nicht  eine  Angstneurose 
hervorrufen,  so  wenig  wie  die,  die  umgekehrt  eine  Angstneurose  Hervor- 
rufen, eine  Neurasthenie  machen  können.  Anderseits  tritt  aber  noch  die 
Vermengung  der  Angstneurose  mit  der  hysterischen  Phobie  auf,  und 
dann  unterscheidet  Freud  auch  hierfür  eine  getrennte  Aetiologie. 

Diese  Ausführungen  Freud ’s  waren  selbstverständlich  etwas  über- 


4 


raschend;  < h*n n wenn  es  auch  an  sich  nicht  zu  verwundern  ist,  dass  im 
Krankheiisbilde  der  Neurasthenie  neue  Symptome  gefunden  worden 
wären,  wie  dieses  ja  doch  seit  der  ersten  Besehreibung  dieser  Krank- 
heit slorm  überhaupt  fast  jährlich  geschehen  ist,  so  war  es  doch  etwas 
frappant,  sexuelle  Unregelmässigkeiten  als  blosse  ätiologische  Noxe  von 
Jemandem  vertreten  und  alle  andern  eventuellen  Ursachen  als  sekundäre 
in  zweite  Reihe  gesetzt  zu  sehen. 

Us  ist  deswegen  auch  nicht  zu  verwundern,  dass  sofort  Gegner 
dieser  Theorie  auftraten.  Als  einer  derselben  ist  in  erster  Linie  Löwen- 
feld1) zu  nennen,  der  energisch  gegen  die  Freud’schcn  Ansichten  Front 
machte. 


In  seinen  Untersuchungen  bezeichnet  er  auf  Grund  einiger  Kranken- 
geschichten, die  er  mitteilt,  den  Angstzustand  als  Bindeglied  zwischen 
neurasthenischcn  Symptomen  und  hysterischem  Appendix. 

Diese  Bezeichnung  sieht  sofort  etwas  verwunderlich  aus;  denn  wenn 
er  zwei  Symptome  durch  ein  drittes  verbindet,  so  kann  er  dann  nur 
meinen,  dass  die  beiden  verbundenen  auch  als  etwas  sehr  ähnliches  auf- 
zufassen sind,  und  dies  dürfte  doch  wohl  der  allgemeinen  Ansicht  über 
Neurasthenie  und  Hysterie  nicht  ganz  entsprechen.  Bei  genauer  Durchsicht 
seiner  Krankengeschichten  zeigt  sich  auch,  wodurch  eigentlich  Löwenfeld 
auf  diesen  Irrweg  geraten  ist,  indem  er  nämlich  fast  nur  Fälle  von  Hysterie 
bringt,  die  Freud  in  seinen  Betrachtungen  ausgeschlossen  hatte.  Er 
spricht  der  Freud’schen  Theorie  für  eine  grosse  Zahl  von  Fällen  mit 
Angstzuständen  die  Berechtigung  nicht  ab,  was  er  aber  bestreitet,  ist 
die  von  Freud  für  die  erworbenen  Angstzustände  angenommene  Regel- 
mässigkeit und  Specia lität  der  sexuellen  Aetiologie.  Mag  Löwen- 
feld nun  der  erblichen  Belastung  einen  grösseren  Raum  für  das  Ent- 
stehen der  Angstzustände  einräumen,  so  ist  hiergegen  vor  der  Hand 
nichts  einzuwenden.  Wenn  er  aber  bei  seinen  Krankengeschichten  gar 
nicht  auf  die  sexuelle  Anamnese  eingeht  oder  sie  zum  mindesten  nicht 
publiziert,  so  erscheint  er  mir  auch  nicht  berechtigt,  über  die  Freu  fi- 
sche Theorie  diese  weitgehende  Kritik  zu  üben. 

Noch  eine  viel  grössere  Rolle  über  das  Entstehen  des  Angstanfalles 
spielt  nach  seiner  Meinung  der  Schreck  bei  neurotisch  veranlagten  In- 


1)  Löwenfeld,  Ueber  die  Verknüpfung  neurasthenischer  und  hysterischer 
Symptome  in  Anfallsform  nebst  Bemerkungen  über  die  Freud’sche  „Angstneurose“. 
Münchn.  med.  Wochenschrift.  1895.  No.  13. 


D 


dividuen.  Es  ist  ja  richtig,  dass  in  einigen  dor  wenigen  Kranken- 
geschichten, die  Löwenfeld  ins  Feld  führt,  der  Angstanfall  nach  einem 
Schrecken  aufgetreten  ist.  Muss  aber  auch  desshalb  der  Schreck  die 
Wurzel  des  Anfalles  sein,  oder  wäre  es  nicht  richtiger  gewesen  zu  unter- 
suchen, ob  der  Schreck  hier  nicht  bloss,  die  Stelle  eines  Agent  provo- 
cateur einnimmt,  und  ob  nicht  in  der  ganzen  Zeit  vor  dem  Schrecken 
irgend  etwas  anderes  obgewaltet  hat,  sodass  bei  der  Emotion,  wie  ihn 
doch  der  Schreck  darstellt,  schliesslich  der  Angstzustand  frei  zu  Tage 
treten  konnte?  Ich  meine,  man  dürfte  hier  nicht  eher  kritisieren,  ehe 
man  nicht  die  Argumente  des  Gegners  genau  geprüft,  und  andererseits 
dürfte  wohl  eine  Zahl  von  6 Krankengeschichten  kaum  beweisend  sein. 

Nun  kann  ich  Löwenfeld  aber  seine  Kritik  der  Angstneurose  nicht 
so  sehr  verübeln,  wenn  ich  bedenke,  welche  Ansicht  er  an  anderer  Stelle 
über  Hysterie  und  Neurasthenie  äussert  H. 

Denn  hier  sagt  er,  dass  eine  streng  wissenschaftliche  Unterschei- 
dung zwischen  Hysterie  und  Neurasthenie  nicht  durchführbar  sei,  ihre 
Trennung  eine  Folge  des  Entwicklungsganges  unserer  Kenntnisse  auf 
diesem  Gebiete.  Meines  Achtens  nach  ist  dies  eine  zu  grosse  Beschei- 
denheit; denn  aus  der  Mangelhaftigkeit  einer  bisherigen  Untersuchung 
darf  man  nicht  auf  deren  Undurchführbarkeit  schliessen. 

Es  zeigt  sich  ja  dann,  dass  er  an  einem  grossen  Material  reiche  Er- 
fahrungen gesammelt  hat,  was  die  Aetiologie  und  Symptome  der  Neur- 
asthenie betrifft.  Dieses  Verdienst  wird  ihm  sicherlich  niemand  ab- 
streiten, aber  er  räumt  den  Angstzuständen  nicht  den  ihnen  gebührenden 
Platz  ein  und  ebensowenig  den  sexuellen  Ursachen  der  Neurasthenie. 

Ich  habe  daraufhin  die  Litteratur  weiter  verfolgt,  und  wunderte 
mich,  dass  Bi  nswanger1 2)  in  seinem  ausführlichen  Werke  der  Sexualität 
und  deren  Einfluss  auf  die  Entstehung  der  Neurasthenie  einen  ganz 
minimalen  Raum  gewährt.  Ich  will  es  nicht  unterlassen,  an  dieser  Stelle 
auf  diejenigen  Momente  zu  verweisen,  die  Binswanger  für  die  Ent- 
stehung der  Neurasthenie  für  wichtig  erachtet. 

Er  glaubt,  dass  vor  der  Entwickelung  dieser  Nervenkrankheit  eine 
neu ropathi sehe  .Prädisposition  schon  vorhanden  gewesen  sein  müsse.  Und 
wenn  ich  auch  hier  noch  nicht  die  Ansichten  anderer  Autoren  der  Kritik 

1)  Löwenfeld,  Pathologie  und  Therapie  der  Neurasthenie  und  Hysterie. 
Abt,  I.  1893. 

2)  Binswanger,  Die  Pathologie  und  Therapie  der  Neurasthenie. 


UllUTZICI] 

weisen, 

organisd 


Mi  will,  so  möchte  ich  ns  doch  nicht  unterlassen,  darauf  liinzu- 
n welcher  Weise  hei  einer  nicht  genauen  Unterscheidung  eine 
i * Erkrankung  mit  ei  ihm1  Neurose  verwechselt  werden  kann,  denn 


wenn  man.  so  wie  Binswanger,  sehn 


, dass  in  einem  Falle  ein  ge- 
rn- neurasthenischor  Patient  seihst  darauf  aufmerksam  macht,  dass 
er  als  schwächliches  Zwillingskind  zugleich  mit  einem  gesunden,  kräftigen 
Bruder  geboren  wurde,  und  in  einem  zweiten  Falle  eine  zart  gebaute 
Mutter  zwei  Monate  nach  der  Geburt  eines  kräftigen  Kindes  schon  wieder 
gravid  wurde,  dass  sie  die  ganze  Zeit  bis  zur  Geburt  entkräftet  gewesen 
sei  und  auch  »-in  schwächeres  Kind,  das  später  neurastheniseh  wurde, 
geboren  hat,  so  darf  man  diese  Fälle  nicht  zu  denen  mit  ererbter,  d.  h. 
von  den  Erzeugern  überkommener  Disposition  legen,  sondern  beide  Palle 
müssen  einfach  als  Ent  Wickelungshemmung  betrachtet  werden  und 
kann  für  organische  Schwäche  des  Nervensystems  nur  die  organische 
Actiologie  in  Betracht  kommen.  Binswanger  findet,  dass  eine  kon- 
genitale Veranlagung  zu  konstitutioneller  Neurasthenie  noch  nicht  einmal 
bei  der  Hälfte  der  neurast henischen  Patienten  sich  beweisen  lässt,  denn 
bei  seinen  klinisch  behandelten  Kranken  fanden  sich  bloss  49  pCt.  der 
männlichen  und  35,5  pOt.  der  weiblichen  Patienten  erblich  belastet. 
Daraus  ginge  hervor,  dass  während  des  extrauterinen  Lebens  hinreichend 
schädliche  Ursachen  auf  den  Kulturmenschen  einwirken,  um  für  sich 
allein  jene  neurasthenischen  Ermiidungs-  respektive  Erschöpfungszustände 
des  Contra  .Inervensystems  hervorzu  bringen. 

Boi  unseren  sozialen  Lebensbedingungen  sei  der  Mann  viel  häutiger 
den  Schädlichkeiten  ausgesetzt,  welche  Neurasthenie  bedingen  können. 
Werde  aber  die  Frau  den  gleichen  Daseinsbedingungen  ausgesetzt,  so 
unterliegt  sic  den  gleichen  Gefahren.  Das  lehrt  die  Häufigkeit  der 
Neurasthenie  bei  Lehrerinnen,  weiblichen  Angestellten  im  Post-  und 
Telegraphendienst  und  in  kaufmännischen  Geschäften,  sowie  bei  Künstlern, 
liier  möchte  ich  einflechten,  dass  zu  untersuchen  gewesen  wäre,  ob  nicht 
durch  veränderte  soziale  Lebensbedingungen  einer  Frau  auch  deren 
Sexualbeziehungen  eine  Aenderung  erleiden.  Dann  führt  Binswanger 
als  ätiologische  Momente  an:  deprimierende  Affekte,  Kummer,  Sorge, 
Gram,  dann  kommen  die  Genüsse,  Litteratur,  bildende  Künste  und  Musik, 
welche  heut  zu  Tage  in  dem  Bestreben,  unser  Gemiith  auf  das  Tiefste 
zu  bewegen,  wetteifern.  Das  mag  ja  gewiss  richtig  sein,  aber  auch  hier 
wäre  zu  untersuchen,  ob  nicht  gerade  diese  „Genüsse“  primär  auf  das 


7 


Sexualleben  eine  Einwirkung  haben  und  sekundär  erst  zur  Erkrankung 
lüliren.  Scddiesslieli  kommt  er  auf  die  intellektuellen  Ueberanstrengungen 
zu  sprechen  und  bezeichnet  den  Umstand  als  eine  allgemeine  Erlahrungs- 
thatsache,  dass  alle  diejenigen  Individuen  leichter  der  Neurasthenie  unter- 
liegen, welche  mit  geistiger  Arbeit  einseitig  belastet  sind:  „wie  dies  zum 
Beispiel  bei  der  Ueberbiirdung  in  der  Schule  etc.  der  Fall  ist“. 

Meines  Erachtens  müsste  man  auch  die  Kehrseite  derartiger  ein- 
seiliger Belastungen  untersuchen,  und  sehen,  ob  nicht  etwa  in  der  Be- 
schäftigung selbst  eine  grössere  Umleitung  des  Gemüthes  auf  sexuelle 
Vorgänge  liegt,  welcher  keine  entsprechende  Ableitung  entgegengesetzt 
wird.  Fast  jeder  Neurastheniker  würde,  so  meint  Binswanger  an 
anderer  Stelle,  wenn  er  Vertrauen  zu  seinem  Arzt  gefasst  hat,  sein  Herz 
ausschiitten  und  mitteilen,  dass  er  früher  onaniert  hat.  Wenn  man  aber 
den  Dingen  auf  den  Grund  ginge,  würde  man  fast  immer  finden  können, 
dass  der  selbstquälerische  Patient  aus  sich  heraus  oder  durch  Lektüre 
populärer  medizinischer  Bücher  diese  Ansicht  produziert  und  die  Onanie 
zurück  verlegt.  Hiermit  will  Binswanger  sagen,  dass  die  sexuelle 
Aetiologie  bei  weitem  für  zu  gross  angeschlagen  wird,  und  er  äussert 
sich  sogar  dahin,  dass  die  Onanie  dem  Coitus  gleich  zu  erachten  ist, 
und  man  höchstens  deswegen  die  Masturbation  für  gefährlicher  halten 
könne,  weil  sie  eine  fast  unbegrenzte  Gelegenheit  zur  Ausführung  biete. 
Ueber  das  Zustandekommen  der  Masturbation,  ob  es  etwa  durch  Zwang 
oder  sonstige  andere  psychische  Einflüsse  bedingt  wird,  fehlt  jedwede 


Aeusserung. 

Er  widmet  dann  eine  ganze  Vorlesung  ausführlich  den  neurasthe- 
nischen  Genitalstörungen,  aus  denen  ich  nur  hier  einiges  herausgreifen 
möchte1).  „Ich  gelangte  dort  (i.  e.  in  der  allgemeinen  Aetiologie  und 
Pathologie  der  Neurasthenie)  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Störungen  der 
Genitalsphäre  in  vereinzelten  Bällen  der  Ausgangspunkt  des  Leidens  ge- 
wesen sind,  und  dass  sie  viel  häufiger  nur  als  Begleiterscheinung  der 
Neurasthenie  aufgefasst  werden  müssen,  welche  vermöge  der  allgemeinen 
nervösen  und  psychischen  Störungen  des  neuraslhenisehen  Individuums 
in  erhöhtem  Maasse  zu  subjektiven  Beschwerden  geführ!  haben.  Zu  dom 
gleichen  Schlüsse  gelangte  ich  bezüglich  der  nosologischen  Bedeutung 
der  Genital  Störungen  innerhalb  des  neuras!  henischen  Symptomenkomplexes. 


1)  1.  c.  S. 


s 


In  der  Mehrzahl  der  Falle  können  sie  nur  in  so  weit  einen  grösseren 
Wert  beanspruchen,  als  sie  den  psychischen  Zustand  des  Kranken  in  un- 
günstiger Weise  beeinflussen“,  und  an  anderer  Stelle  sehliesst  er1):  „Auch 
ieh  halte  die  sexuellen  Störungen  der  Neurastheniker  in  der  überwiegen- 
den Mehrzahl  der  Fälle  für  sekundäre,  auf  dem  Boden  der  allgemeinen 
Neurose  entstandene  und  mit  den  übrigen  Symptomen  durchaus  gleich- 
wert  ige  Krank heitserscheinungen.“ 

Ich  habe  weiter  oben  schon  gesagt,  dass  ich  an  dieser  Stelle  weder 


die  Freud’schen  Ansichten,  noch  die  Ansichten  anderer  Autoren  einer 
Kritik  unterwerfen  will;  wenn  es  aber  trotzdem  scheinen  sollte,  dass 
ich  hier  das  Binswanger’sche  Buch  eingehender  beurteilt  habe,  als  es 
für  diesen  Teil  der  Arbeit  nötig  ist  und  man  dagegen  einwenden  könnte, 
dass  es  ja  garnichts  mit  der  Angstneurose  zu  thun  hat,  so  habe  ich  es 
gerade  deswegen  gethan,  um  zu  zeigen,  wie  wenig  Binswanger  auf  die 
sexuellen  ätiologischen  Momente  überhaupt  Wert  legt  und  wie  er  in 
seinem  ganzen  Werke  der  Freud’schen  Angstneurose  oder  der  Hecker- 
sehen Angstanfälle  gar  keine  Erwähnung  thut. 

Natürlich  haben  mich  die  Ansichten  eines  Neuropathologen  wie  Bins- 
wanger nicht  wenig  beschäftigt,  und  ich  glaubte  selbst,  dass  mit  der  Nicht- 
erwähnung der  Sexualtheorie  eine  stillschweigende  Kritik  von  ihm  geübt 
worden  ist.  Nachdem  ich  aber  im  weiteren  Verlauf  der  Zeit  gesehen  habe, 
dass  man  nicht  allgemein  dieses  Totschweigen  übt,  glaube  ich  jetzt  eher, 
dies  als  einen  Mangel  der  Binswanger’schen  Arbeit  betrachten  zu  müssen. 

So  fand  ich,  dass  von  Tschisch2)  die  Angstzustände  einer  Be- 
trachtung für  würdig  gehalten  hat.  Er  untersuchte  17  Fälle  von  Neur- 
asthenie (11  Männer  und  6 Frauen),  bei  denen  er  als  einzige  Ursache 
den  Coitus  reservatus  fcststellcn  konnte.  Bei  allen  traten  bereits  zwei 
Monate  nach  dessen  Ausübung  Angsterscheinungen  ein  und  hauptsächlich 
waren  es  zwei  Symptome,  die  ihm  auffielen:  nämlich  Furchtsamkeit  und 
ein  gar  nicht  oder  nur  ungenügend  motivirtes  Gefühl  von  Angst  und 
Gleichgültigkeit  gegen  ihre  ganze  Umgebung.  Zwei  seiner  Patienten 
setzten  diese  sexuelle  Schädlichkeit  aus  und  wurden,  wie  v.  Tschisch 
schreibt,  gesund;  und  dann,  nachdem  sie  wieder  angefangen  hatten,  er- 


lj  1.  c.  S.  269. 

2)  v.  Tschisch,  Sitzungsberichte  des  VI.  Congr.  d.  Gesell,  russ.  Aerzte  in 
Kiew  1896. 


krankten  sie  abermals  und  zwar  genau  in  derselben  Weise,  wie  das  erste 
Mal.  Hiermit  hatte  v.  Tschisch  17  Fälle  von  Angstneurose  gefunden, 
und  auch  eine  specifische  Ursache  derselben,  die  sich  ganz  mit  der 
Freud’ sehen  deckte.  In  36  anderen  Fällen  von  Neurasthenie  konnte 
er  die  Aetiologie  nicht  so  rein  finden,  trotzdem  auch  hier  der  Coitus 
reservatus  eine  der  vielen  Ursachen  war,  und  dem  entsprechend  auch 
die  Angst  im  Svinptomencomplex  sich  zeigte;  sodass  er  cs  hier  mit 
Mischformen  der  Neurasthenie  und  Angstneurose  zu  tlmn  hatte. 

Im  Laufe  der  Zeit  hat  nun  Löwenfeld1)  seine  Aufmerksamkeit 
den  Angstzuständen  mehr  zugewandt  und  kommt  in  einer  neuen  Ver- 
öffentlichung ausführlicher  als  früher  auf  die  Freud’ sehe  Theorie  zu 
sprechen.  Ich  bemerkte  bereits  dort,  dass  mir  bei  Löwen  fei  d eine 
gewisse  Ungenauigkeit  in  der  Angabe  seiner  Fälle  aufgefallen  ist  und 
auch  hier  vermisse  ich  in  erster  Linie  die  Angabe,  wieviel  Fälle  er  über- 
haupt seiner  Untersuchung  zu  Grunde  gelegt  hat;  trotzdem  er  davon 
spricht,  dass  bei  seinem  Krankenmaterial  sich  ein  auffallendes  Ucber- 
wiegen  der  Männer  zu  den  Frauen  im  Verhältnis  von  2 : 1 findet.  "Wir 
wissen  noch  nicht,  ob  das  Material  gross  genug  gewesen  ist,  um  über- 
haupt einen  Schluss  auf  das  procentische  Verhältnis  der  beiden  Geschlechter 
zuzulassen. 

Löwenfeld  giebt  zu,  dass  ausser  Zufälligkeiten  bei  Männern 
spcciell  sexuelle  Noxen  sich  häufiger  geltend  machen,  als  bei  Weibern. 
Am  wichtigsten  ist  mir  jedoch  sein  Befund,  dass  in  annähernd  75  pCt. 
seiner  Fälle  sich  eine  sexuelle  Aetiologie  gefunden  hat,  häufiger  als  er 
selbst  erwartete,  „d.  h.  in  diesem  Procentsatze  der  Fälle  Hessen  sich 
irgendwelche  als  Schädlichkeiten  anzusprechende  Verhältnisse  im  Bereiche 
der  Vita  sexualis  eruiren,  welche  bereits  vor  dem  Eintreten  der  Zustände 
ihren  Einfluss  geltend  machten.“  Ich  bin  auch  fest  überzeugt,  dass 
Löwenfeld  thatsächlieh  diesmal  die  Anamnese  so  genau  wie  möglich 
aufgenommen  hat  und  auf  diese  Weise  75  pCt.  der  Fälle  mit  Sexual- 
noxen als  Aetiologie  gefunden.  Aber  ich  möchte  ihm  nicht  darin  bei- 
pflichten,  dass,  weil  das  weibliche  Geschlecht  absolute  Abstinenz  leichter 
erträgt  als  das  männliche,  man  bei  jungen  Mädchen,  „an  deren  Jung- 
fräulichkeit und  moralischer  Intactheit  nicht  zu  zweifeln  wäre“,  eine 


1)  Löwenfeld,  Zur  Lehre  von  den  neurotischen  Angstzustiinden.  Münchner 
ined.  Wochenschr.  1897.  No.  24,  25. 


10 


sexuelle  Schädlichkeit  ohne  weiteres  aussch Hessen  darl.  Wie  \icle  \on 
diesen  zeigen  gerade  durch  ihre  sexuellen  I räume,  dass  sie  trotz  eines 
durchaus  keuschen  Lebenswandels  sexuell  bedürltig  sind;  und  bei  wie 
vielen  vulgo  als  sehr  anständig  bezeichncten  Mädchen  bringt  der  hann- 
loseste  gesellschaftliche  Vorkehr  mit  Angehörigen  des  andern  Geschlechts 
ebenso  wie  Leibesübungen  (Tanzen,  Radfahren,  Reiten)  eine  Irustanc  Er- 
regung mit  sich,  die  dann  ebenso  gut  als  Angst  in  pathologischer  V eise 
zur  Geltung  kommen  kann.  Wohl  möglich,  dass  also  bei  noch  ge- 
nauerem Zusehen  sich  der  Procentsatz  Löwen  leid  s noch  grösser  als 
75  pCt.  gestalten  würde. 

Weiter  sagt  Löwenfcld:  „Wenn  auch  die  F reud’sche  Theorie  der 
Angst  den  Phobien  gegenüber  ganz  und  gar,  und  jedenfalls  einem  Teil 
als  spontanem  Angstanfall  gegenüber  versagt,  welchen  Werth  kann  diese 
Theorie  überhaupt  beanspruchen?“  Ich  meine,  gerade  einen  sehr  grossen 
Wert,  wie  bei  jeder  Diagnosis  per  exclusionem!  Denn,  wenn  in  einem 
Fall  die  Theorie  der  Angstneurose  versagt,  wenn  die  Phobie  ganz  cir- 
cumscript,  dann  eben  handelt  es  sich  nicht  um  eine  Angstneurose, 
sondern  um  eine  Hysterie;  dann  ist  infolge  der  anderen  Aetiologie  auch 
die  Behandlung  eine  ganz  andere,  weit  schwierigere  und  dann  zeigt  sich 
wieder,  welche  himmelweite  Entfernung  die  Neurasthenie  und  Angst- 
neurose auf  der  einen  Seite  von  der  Hysterie  auf  der  anderen  Seite 
trennt. 

Wie  verhält  sich  nun  Löwenfeld  zu  der  Frage  der  Heredität?  Da 
sagt  er:  „Hereditäre  Veranlagung  findet  sich  zwar  nicht  constant,  jedoch 
in  der  grössten  Mehrzahl  der  Fälle;  sie  fungiert  aber  bei  Erwachsenen 
jedenfalls  nur  sehr  selten  als  ausschliessliche  Ursache  von  Angstzu- 
siänden;  im  Allgemeinen  beschränkt  sie  ihre  Rolle  darauf,  dass  sie  die 
pathogene  Wirksamkeit  anderer  ätiologischer  Momente,  der  essentiellen 
Ursachen,  erhöht.“  Das  wäre  nun  ganz  gut  und  könnte  sich  wohl  auch 
mit  der  Freud’schen  Theorie  decken,  wenn  sich  nicht  einige  Seiten 
später  bei  Löwen feld  ein  Widerspruch  in  seiner  Auffassung  ergäbe,  in- 
dem er  sagt,  dass  man  es  fast  ausschliesslich  mit  erblich  belasteten 
Individuen  zu  thun  hat,  bei  welchen  neben  den  hereditären  Momenten 
sexuelle  Noxen  sich  finden.  Es  ist  gewiss  anzuerkennen,  dass  Löwen- 
feld sich  durch  genauere  Analysierung  seiner  Fälle  zum  Teil  vor  den 
Freud 'sehen  Ansichten  gebeugt  hat,  nur  glaube  ich,  dass  ihm  bis  jetzt 


die  Definition  der  Angstneurose  nicht  ganz  geläufig  ist,  da  er  den 
prinzipiellen  Gegensatz  zwischen  Angstneurose  und  Hysterie,  worauf 
Freud  ja  gerade  in  allen  seinen  Arbeiten  einen  grossen  Wert  legt, 
nicht  genügend  auseinander  hält. 

« Die  von  Freud  ausgesprochenen  Behauptungen,  dass  Angstneurose 
nur  auf  Grund  einer  speeifischen  sexuellen  Ursache  entstehen  könne, 
haben  mich  sicher  nicht  weniger  erstaunt  und  zur  Kritik  angereizt,  wie 
die  anderen  Autoren,  deren  ich  Erwähnung  gethan  habe.  Von  der  Vor- 
aussetzung ausgehend,  dass  man  keine  Kritik  nach  blossen  Anti-  oder 
Synipathiecn  ausüben  dürfe,  je  nach  dem  Einem  eine  aufgestellte  These 
gefällt  oder  nicht,  sondern  dass  man,  um  eine  Behauptung  eventuell 
widerlegen  zu  können,  denselben  Untersuchungsgang,  wie  der  Andere 
einschlagcn  muss,  habe  ich  mir  die  Aufgabe  gestellt,  ein  möglichst 
grosses  Krankenmaterial  zusammenzutragen,  ganz  objcctiv  zu  betrachten 
und  dann  erst  zu  sichten. 

Gelegenheit  hierzu  fand  ich  an  den  Patienten  des  Ambulatoriums 
für  Nervenkrankheiten  und  Psychiatrie  des  Herrn  ITofrats  Professor  Dr. 
von  Krafft-Ebing  in  Wien.  Ich  stellte  mir  die  Aufgabe,  die  Angaben 
von  100  Patienten  der  Reihe  nach  zu  registrieren,  aber  nur  von  solchen, 
die  keinerlei  organische  Nervenkrankheiten  hatten.  Wenn  nämlich  Freud 
mit  seiner  Annahme,  dass  die  Angstneurose  eine  speei  fische 
sexuelle  Ursache  habe,  Recht  behalten  wollte,  so  müssten  die  andern 
Fälle  von  Neurose,  die  keine  Symptome  von  Angst  aufweisen, 
wiederum  ihrerseits  eint'  andere,  specifische  sexuelle  Ursache 
haben  und  auch  um  mir  den  Vorwurf  der  Parteilichkeit  zu  ersparen, 
habe  ich  nicht  nur  die  Fälle  mit  „Angst“  hcrausgegriffen,  sondern  wie 
schon  erwähnt  alle,  so  wie  sie  kamen,  einen  nach  dem  andern  notiert. 
Nehmen  wir  noch  dazu,  dass  Freud  seit  .Jahren  der  Hysterie  ihre 
specifische  sexuelle  Ursache  zuweist,  so  bleibt  schliesslich  nur  die 
Neurasthenie  übrig,  sodass  die  sexuellen  Ursachen  aller  Neurosen  sich 
in  diesen  100  Fällen  vorfinden  müssen.  Nun  habe  ich  aber,  um  den 
Procentsatz  der  Neurastheniker  und  Angstneurotiker  zu  erhöhen,  keinen 
Fall  von  schwerer,  auf  den  ersten  Blick  gekennzeichneter  Hysterie 
aufgenommen;  denn  um  die  Aetiologie  der  Hysterie  zu  ergründen  und 
den  ersten  aus  frühester  Jugend  stammenden  Keim  herauszugraben,  be- 
darf es  mehr  /eit,  als  man  bei  einem  ambulatorischen  Examen  zur  \ er- 


fiigung  hat;  um  derartige  Psychoanalysen  durchzul (ihren,  bedarf  cs 
Wochen  und  Monate.  Ausserdem  sind  aber  dazu  nur  Patienten  geeignet, 
die  ein  höheres  Niveau  von  Intelligenz  erreichen. 

Meine  Patienten  waren  dagegen  ganz  einfache  Leute,  wie  jedes 
Ambulatorium  sie  bietet.  Einen  \ orteil  hatte  dies  ja  in  so  fern,  als 
auch  alle  sich  wirklich  krank  fühlten;  denn  die  arbeitende  Klasse  der 
Menschen  läuft  einer  einfachen  Caprice  wegen  nicht  zum  Arzt,  während 
zu  Hause  die  Arbeit  ruht  — anderseits  hatte  das  Material  freilich  den 
kleinen  Nachteil,  dass  diese  Leute  doch  vielleicht  etwas  weniger  Wert 
auf  Selbstbeobachtung  legen,  als  wie  nur  geistig  t hat ige  Menschen.  Der 
Nachteil  giebt  aber  dem  Vorteil  gegenüber  kaum  einen  Ausschlag,  ja  es 
lassen  die  weniger  detaillierten  Angaben  vielleicht  sogar  auf  eine  grössere 
Differenz  in  der  Aetiologie  schliessen  und  so  für  beginnende  Forschungen 
in  dieser  Frage  eine  grössere  Klarheit  erkennen.  Kompliziertere  Fälle 
mit  recht  verschlungener  Aetiologie  aufzuklären,  möge  ein  ander  Mal  das 
Feld  meiner  Untersuchungen  bilden. 


No. 

Name  und 
Stand 

Alter 

Er- 

krankt 

seit 

Heredität 
und  frühere 
Erkrankung 

Subjektive  Beschwerden 

1. 

Julius  S., 
Hand- 
lungs- 
gehilfe. 

2-2 

3-4 

Woch. 

Scharlach, 
Masern,  2 mal 
Lungen- 
entzündung. 

Allgemeine  Angst,  speziell  Brücken, 
Fensterangst. 

Peter  D., 
Friseur. 

:so 

3 Mon. 

Aohnlichcr 
Zustand  vor 
2 .1.  nach 
Tripper. 

Anfallswei.se  Zittern,  Schwitzen, 
Athembeschvverden , allgemeine 
Angst. 

3. 

Ford  in.  11., 
Kommis. 

19 

4 .J. 

Nihil. 

Mattigkeit,  Magenschmerzen. 

4. 

Itcne  v.  S., 
Photo- 
graph. 

21 

1 J. 

Typhus. 

Herzklopfen,  Angst,  Beklemmung, 
Kopfschmerz. 

13 


Es  mag  vielleicht  befremdlich  erscheinen,  dass  ich  diese  heiklen 
Krankengeschichten  alle  wiedergebe,  in  denen  ja,  ich  leugne  es  nicht, 
eine  gewisse  Monotonie  zu  Tage  tritt;  erklärlich  wird  cs  aber  durch  die 
Ueberlegung,  dass  diese  Patienten  nicht  gut  zum  Gegenstand  einer  De- 
monstration, wie  solche  mit  organischen  Nervenkrankheiten  gemacht  werden 
können,  dass  man  vielmehr  das  glauben  muss,  was  der  Arzt  bei  der 
Unterhaltung  mit  dem  Kranken  unter  4 Augen  erfahren  hat  und  mitteili. 

Hätte  ich  lediglich  eine  Statistik  aufgestellt,  so  könnte  man  mir 
denselben  Fehler,  wie  den  andern  Bcurtheilern  Freud ’s  zum  Vorwurf 
machen.  Ich  glaube  daher  durch  die  breitere  Mitteilung  der  Kranken- 
geschichten einen  grösseren  Anspruch  auf  Wahrheitstreue  machen  zu 
können. 

Zunächst  lasse  ich  nun  die  tabellarisch  angeordneten  Kranken- 
geschichten folgen  und  cs  ist  wohl  nicht  nötig,  auf  die  Anordnungen  der 
Rubriken  vorher  einzugehen,  da  ich  mich  dabei  der  grösstmöglichen 
Ueb ersichtlich k eit  befleissigt  habe: 


Somatischer 

Befund 


Sexualbeziehungen 


Diagnose 


Nihil. 


Verkehrt  hin  und  wieder  seit  4 Jahren  mit  Prostituier- 
ten, hat  jedoch  nie  rechte  Befriedigung  gehabt.  Zu- 
letzt 1.  Januar  1897,  weil  er  seitdem  in  ein  anstän- 
diges Mädchen  verliebt  ist.  Häufige  frustrane  Erre- 
gung, sexuelle  Träume. 


Hy.  An.* 


Gesteigerte 

Patellar- 

reflexe. 


Gesteigerte 
Patellarre- 
llexe.  Hypo- 
chondral- 
schmerz. 


Nach  dem  Tripper  einige  Monate  enthaltsam  aus  Angst 
vor  erneuter  Ansteckung.  Dann  wieder  normaler  Ver- 
kehr, seit  5 Monaten  verlobt,  ganz  enthaltsam,  giebt 
gelegentliche  Masturbation  zu. 

Masturbiert  seit  4 Jahren. 


Nihil. 


Früher  normaler  Coitus.  Seit  \l/2  Jahren  verliebt, 
jetzt  anständig  verlobt,  ganz  abstinent. 


An.  Ne. 


Ne. 


An. 


* Hy.  = Hysterie,  An. 


Angstneurose,  Ne.  = Neurasthenie. 


14 


Nu. 


Name  und 
Stand 


Er- 

Altcr  krankt 
seit 


Heredität 
und  frühere 
Erk  ran  kung 


S u bj  ek t i v e Beschwerden 


6. 


9. 


\gathe  L., 
Wittwe. 


50  8 .1. 


Franz  W., 
Postamts- 
dicner. 

Karl  S., 
Diener. 


Barbara 
S.,  Korb- 
tl  echterin. 


21 


23 


41 


10. 

11. 

12. 


Engelbert 
P.,  Zeich- 
ner. 

Anna  W., 
Köchin. 

August  J., 
Kommis. 


Elise  S.,  35  Nov. 

Wittwe,  18%. 

Näherin. 


Jahre. 


O 1 

O J. 


31  8 Mon. 


31 

18 


6 J. 


Jahre. 


Nihil. 


Nihil. 


Nihil. 


Nihil. 


Bruder  an 
Paralyse  j. 


Nihil. 


Magenschinerz,  Kreuzschmerz,  llie- 


Vor  10  Jahren 
Gehirner- 
schütterung, 
Vater  nervös 


gende  Hitze. 


I Icrzkloplcn,  Magenschmerz  (sehrguter 
Appetit), zeitweiligZittern  im  rechten 
Arm  und  Bein. 

Herzklopfen,  Magenschmerz. 


Mattigkeit,  Kopfschmerz,  allgemeine 
Unlust. 


Ist  als  Kind  immer  schwächlich  ge- 
wesen. Periode  mit  1-4  Jahr,  immer 
regelmäss.  1890  verheiratet.  1893/94 
Kreuzschmerzen,  Mattigkeit  in  den 
Beinen.  Jan.  1892  1.  Kind.  August 
1892  Abort.  Septemb.  1893  3. Kind. 
Während  der  Schwangerschaften  und 
kurz  nach  denselben  ging  es  ihr  im- 
mer gut;  kurz  nach  der  letzten  Ge- 
burt Descensus  uteri,  Pessar.  Seit 
1 894  halbsei  t iger  K op  fschmerz,  1 eich  te 
Angstvorstellungen  unbestimmterArt, 
die  sie  dem  Manne  gegenüber  immer 
als  Herzklopfen  erklärt.  Fast  zur 
selben  Zeit  wie  die  Kopfschmerzen 
hat  sie  Magendrücken.  Tageweise 
geht  es  ihr  ganz  gut. 

Angst,  Beklemmung,  Unruhe. 


Angst,  Beklemmung. 

M a gen -K op fscli  m erz , M attigk eit. 


15 


Somatischer 

Befund 


Hypochon- 

dralschmerz. 


Nihil. 


Hypochon- 

dralschmerz. 


Sexual  b e z i e h u n g c n 

Diagnose 

Seit  8 Jahren,  nach  dem  Tode  des  Mannes,  noch  sehr 
sinnlich  erregt,  folgt  öfters  am  Tage  dem  Drange  zu 
masturbieren. 

Ne. 

War  12  Jahre  verheiratet.  1 Kind  mit  2 Jahren  an 
Diphtherie  j.  Mann  erkrankt  Oktober  1896.  j No- 
vember 1896.  Seitdem  kein  sexueller  Verkehr,  aber 
Masturbation. 

Xe. 

Masturbiert  stark. 

Ne. 

Gesteigerte 
Patellarre- 
ilexe.  Hypo- 
chondral- 
schmerz. 
Patellar- 
reflexe  leb- 
haft. (Descen- 
sus  uteri  gy- 
näkologische 
Klinik). 


Masturbiert  seit  Jahren. 


Mit  19  Jahren  erster  Coitus.  „Wie  jedes  junge  Mäd- 
chen habe  sie  manchmal  Verkehr  mit  ganz  guter  Be- 
friedigung gehabt.“  Seit  1887  reservierter  Verkehr 
mit  dem  Manne.  Nach  der  Hochzeit  1890  hat  er  nor- 
mal mit  ihr  verkehrt,  „weil  der  Coitus  interruptus 
Sünde  sei“ ; jedoch  nach  dem  Abort  1892  kurze  Zeit 
Coitus  int.,  sobald  sie  gravid  war  wieder  normaler 
Verkehr.  Seit  dem  letzten  Kinde  hat  sie  fast  gar 
keine  Empfindung  mehr,  weil  ihr  Mann  viel  eher  zur 
Befriedigung  gelangt,  trotzdem  fühlt  sie  sich  immer 
einen  Tag  nach  dem  Coitus  wohl  und  frei  von  Kopf- 
schmerzen. 


Xe. 


An.  Ne. 


Nihil. 


Fast  völlige  Abstinenz  wegen  Krankheit  der  Frau  seit 
einem  Jahr. 


An. 


Nihil. 

Hypochon- 

dralschmerz. 


Seit  Jahren  verlobt,  hält  sich  anständig,  Bräutigam 
regt  sie  oft  sexuell  auf. 

Masturbation. 


An. 

Ne. 


16 


Nu. 


Nanu*  und 
Stand 


Alter 


hr- 

k rankt 
seit 


Heredität 
und  frühere 
Erkrankung 


S u bj e k t i v e Besch  w erden 


14. 


15. 


16. 


Peter  k\, 
Lehrer  im 
Gebirge. 


3 1 


Franz  II.,  25 
Friseur-  ! 
gehill’c. 


Anna II.,  33 
Ilaus- 
ineisterin. 


Ciicilie  C.,  44 


uuipi 
manns- 
gattin. 


t . 


•los.  W.,  22 

IIolz- 
aul’sehcr. 


18. 


19. 


Rudolf  L., 
Form- 
stechcr. 


Karl  11., 
A rbeiter. 


54 


Jahre. 


2 .1. 
Seit 
14  To- 
heftig. 


Vater  und 
Bruder 
nervös. 


Nihil. 


Mattigkeit,  Pollutionen. 


Iah  re. 


Nihil. 


Vater  nervös, 
mit  7 Jahren 
„Nervcn- 
fieber“,  i.  e. 
A ulregung. 
Mit  10  Jahren 
»Kopf- 
typ h us“. 


4 — 5J.  Tripper, 


1V2  J. 


4 J. 


Nor  12  Jahren 
selbe  Er- 
krankung. 


Vater  und 
zwei  Brüder 
nervös. 


Plötzliches  Zittern  und  Angstgefühl, 
seit  14  Tagen  dadurch  im  Beruf  ge- 
stört. 


Kopf-  und  Magenschmerz,  Schwindel, 
leichte  Angstanfälle. 


Häufige  Verstimmung  seit  dem  Tode 
des  Vaters  vor  16  Jahren,  „was  soll 
aus  mir  werden,  wenn  Mutter  und 
Mann  sterben.“  Angst,  Unruhe,  Un- 
lust, Gedächtnisschwäche  (d.  h.  sic 
merkt,  dass  sie  zwischendrinn  immer 
an  etwas  anderes  gedacht  hat). 
Manchmal  morgens  Erbrechen, 
schreibt  melancholische  Briefe,  Tä- 
dium  vitae. 


Magen-,  Kopfschmerz,  Mattigkeit,  Ge- 
dächtnisschwäche. 


Allgemeine  Angst,  besonders  Nachts, 
leichte  Ermüdbarkeit,  Abspannung 
ziehende  Schmerzen  in  den  Beinen. 


Ilerzkloplen,  Kreuz-,  Magenschmerzen. 


17 


Somatischer 

Befund 


Gesteigerte 
Patcllarre- 
llcxe.  Ifypo- 
chondral- 
schmerz. 

Gesteigerte 

Patellar- 

rcllexe. 


Nihil. 


Nil 


’eriode 


oft  unregel- 
mässig in  den 
letzten  sechs 
Wochen  4mal. 


Hypochon- 
dralschmerz. 
Gedächtnis 
bei  Prüfung 
sehr  gut. 

Nihil. 


Nihil. 


Sexualbezieh  unge n 


Onaniert  seit  seinem  20.  Jahre.  Nie  coitiert. 


Seit  2 Jahren  verlobt.  Coit.  int.  mit  Condom.  Braut 
auch  „nervös.“ 


Keine  Befriedigung  wegen  Dicke  des  Mannes,  von  ihm 
manchmal  masturbiert. 


Ist  schon  in  iungen  Jahren  von  Schulfreundinnen  über 


Sexualleben  aufgeklärt  worden.  Mit  14 


trat 


Periode  auf  und  damit  sexuelle  Erregung  von  17 


die 

bis 


23  Jahren  eine  „heilige  Liebe“ 


zu  einem  Manne,  der 


sich  herablassen  wollte,  sie  zu  heiraten.  Als  dann 
der  iy2  Jahre  ältere  Bruder  das  grosse  Vermögen 
vergeudet,  löste  sich  die  Verlobung  auf;  grosse  Ent- 
täuschung und  Aufregung.  Der  Tod  des  Vaters,  an 
dem  sie  besonders  hing  (28  Jahre)  hat  sie  bis  heute 
deprimirt.  Vom  23.  bis  36.  Jahre  hat  sie  sexuellen 
Verkehr  sehr  entbehrt  (vorher  nicht).  Mit  36  Jahren 
heiratete  sie  einen  damals  52jähr.  Ilauptmann.  Zwei 
Kinder  7 u.  5 Jahr. 


Oft  mangelnde  Befriedigung. 


Masturbation 


Seit  12  Jahren  verheiratet, 
Frau  3 Jahr  Coit.  int.  2 


übte  vor  der  Ehe  mit  der 
Kinder,  11  u.  5 Jahre.  In- 


folge schlechter  Vermögens  Verhältnisse  seit  2 Jahren 
wieder  Coit.  int.  Aus  Rücksicht  auf  die  Frau  zieht 
er  den  Act  so  lange  wie  möglich  hinaus. 


Masturbation. 


Diagnose 


Ne. 


An. 


Ne.  An. 


Hy. 


Ne. 


An. 


Ne. 


Gattei,  Sexuelle  Ursachen  der  Neurasthenie. 


18 


Name  und 

Er- 

Heredität 

No. 

Stand  | Alter 

krankt 

u.  frühere  Er- 

Subjective  Beschwerden 

seit 

krankungen 

20. 


21. 


-» 


23. 


24. 


Rud.  P., 
Bahn- 
assistent. 
Anna  P.,  I 
Frau  des  ! 
Vorigen. 

Const.  P., 
Obergym- 
nasiast. 


26 


24 


20 


Nihil. 


Nihil. 


Angst. 


Julius  S., 
Lehrer 
vom 
Lande. 
Karl  R., 
Photo- 
graph. 


29 


28 


12  .1. 


Vater  und 
Mutter  nervös, 
vor  5 Jahren 
Ohrenleiden. 


Ein  Bruder 
im  Irren- 
haus *j\ 

Kinder- 
kran kheiten. 


Angst,  unmotivierte  Zanksucht. 


Schwindel,  Mattigkeit,  zeitweilig  Zit- 
tern in  den  Händen,  Nachts  Pollu- 
tionen; auch  bei  anstrengenden 
Spaziergängen  bekommt  er  durch  die 
Reibung  des  Penis  Pollutionen.  Stets 
schlecht  gestimmt,  verträgt  sich  nicht 
mit  dem  Vater. 

Allgemeine  Unruhe,  Schmerzen  im 
ganzen  Körper,  Pollutionen. 


I in  Sept.  1896  zuerst  zum  Arzt  wegen 
heftiger  Kopfschmerzen  und  Schwin- 
delanfälle. Ls  wurde  ihm  momentan 
übel,  alles  drehte  sich,  gestürzt  ist 
er  nie;  Platzangst.  Ausserdem  hef- 
tige Kreuzschmerzen.  Diese  Klagen 
sind  bis  heute  unverändert  dieselben. 


25. 


Bernh.  S., 
Buch- 
halter. 


Johann  F., 
Bau- 
polier. 


24 

Jahre. 

Früh.  Magen- 

Allgemeine Schwäche,  Schwindel, 

leidend,  ging 
ohne  Erfolg 

Schwitzen. 

von  einem 
Arzt  zum 
andern. 

89 

1 J. 

Tripper. 

Schwindel,  Mattigkeit,  Magenschmerz, 
Obstipation. 

19 


Somatischer 

Befund 


Nihil. 


Nihil. 


Sexualbeziehungen 


Diagnose 


Seit  3V2  Jahren  sind  beide  miteinander  verheiratet;  um  An. 
keine  Kinder  zu  bekommen,  haben  sie  seit  der  Hoch- 
zeit Coit.  int.  geübt;  er  hat  keine  Rücksicht  auf  ihre 
Befriedigung  genommen  und  sie  höchst  seilen  eine  An. 
solche  verspürt. 


Nihil. 


Hypochon- 

dralschmerz. 


Beim  Be- 
klopfen d.  Da- 
tei larseh  neu 
zittert  er  heftig 
am  ganzen 
Körper.  Nach 
der  Aufforde- 
rung sich  zu- 
sammen zu 
nehmen,  zeigt 
es  sich,  dass 
die  Patellar- 
rellexe  kaum 
gesteigert 

sind. 

Nihil. 


Er  hat  eine  sehr  deutliche  Erinnerung  davon,  dass  er 
schon  mit  4 Jahren  einem  etwas  älteren  Mädchen  an 
die  Genitalien  gegriffen  hat,  er  hat  nie  masturbiert 
oder  coitiert  — aus  Aversion  gegen  alles  Sexuelle  un- 
gefähr seit  der  Pubertät.  Seit  dem  Beginne  der 
Pollutionen  vor  3 Jahren  schläft  er  zur  Controlle  mit 
seinem  Vater  in  einem  Bett. 

Als  Kind  schon  masturbiert.  Dann  sehr  starke  sexuelle 
Ausschweifungen  mit  Retractio.  Jetzt  verliebt,  frus- 
trane  Erregung  mit  Pollution.  Hin  u.  wieder  Mastur- 
bation. 

Vom  16.  bis  24.  Jahre  lebhaft  masturbiert,  dann  hat 
er  ein  Verhältnis  gehabt  und  um  das  Mädchen  nicht 
zu  schwängern,  dauernd  Coit.  int.  geübt,  jedoch  mit 
Rücksicht  auf  Befriedigung  des  andern  Teiles.  Ejacu- 
lation  tritt  sehr  schnell  bei  ihm  ein.  Infolge  seiner 
Aengstlichkeit  will  er  gar  nicht  mehr  coitieren,  je- 
doch nötigt  ihn  das  Mädchen  dazu. 


Früher  hat  er  sehr  stark  masturbiert,  unterlässt  dies 
jedoch  seit  einem  Jahre,  seitdem  er  verlobt  ist. 
Coitiert  auch  nicht. 


Hy. 


Hy.  An.  Ne. 


Ne.  An. 


An. 


Lebhafte 
Pate  11  ar- 
reflexe. 


2 Kinder.  Seil  dem  letzten  (2  Jahr)  verkehrt  er,  da 
die  Frau  jetzt  kränklich  ist,  nur  alle  2—3  Monate 
mit  ihr,  sonst  Masturbation. 

9 * 


An. 


No. 

Name  und 
Stand 

Alter 

Er-  Heredität 

krankt  u.  frühere  Er- 

S u bject  i v e Bes  ch  wer  de  n 

seit  krank  an  gen 

Herrn.  S., 
M usiker. 

45 

Viele 

Jahre. 

N or  7 Jahren 
J^ues. 

Klagt  über  Pollutionen  und  über 
Schmerzen  nach  sexueller  Erregung. 

Fanny  F., 
Dienst- 
mädchen. 

27 

37a  J. 

Schwere  Ge- 
burt  vordJahr. 
(Craniotomie) 

Angst,  Kopfschmerzen,  Gedächtnis- 
schwäche. 

Jakob  H., 
ltabinats- 
Schüler. 

20 

2 J. 

Keine. 

Abgesehlagenhcit,  Kopfschmerz,  Nach- 
lass des  Gedächtnisses,  Obstipation. 

Jakob  H., 
Buch- 
halter. 

22 

Viele 

Jahre. 

Typhus  v or9  J. 
Vater  soll  sehr 
nervös  gewe- 
sen sein,  dsgl. 
ein  Bruder. 

Magenschmerz,  Kopfschmerz,  Hitze- 
gefühl im  ganzen  Körper,  früher 
stark  obstipiert. 

Werte  T., 
Hausie- 
rers frau. 

39 

3A J- 

Leidet  seit  der 
Verheiratung 
vor  15J.an  He- 
micranie  mit 
Flinunern„wie 
die  Mutter“. 

Herzklopfen,  unbestimmtes  Angstge- 
fühl, Mattigkeit. 

Eduard  B., 
Contorist. 

23 

l J. 

War  früher  ein 
gesund.,  kräf- 
tiger Mensch ; 
mit  21  Jahren 
acquirierte  er 
in  Amerika 
eine  Gonor- 
rhoe, sonst  nie 
krank  ge- 
wesen. 

Mattigkeit,  Energielosigkeit,  Magen- 
beschwerden, Stu  h 1 verstopfu  ng. 

Fanny  C., 
Tischlers- 
gattin. 

29 

1 J. 

Fluor  albus. 

Leidet  seit  einem  Jahr  an  Verstim- 
mung, allgemeiner  Angst  und  Kopf- 
schmerzen, die  besonders  zur  Zeit 
der  Periode  stärker  werden.  Abends 
oft  Hitze-  und  Kältegefühl  im 
Rücken. 

28. 


29. 


30. 


31. 


32. 


33. 


*21 


Somatischer 

Befund 


Sexualbezieh  u n g e n 


Patellarreflex 
links  herabge- 
setzt. Pupille 
reagiert  links 
träger  als 
rechts. 


Hat  nie  masturbiert;  immer  regelmässig  mit  Frauen 
verkehrt,  in  letzter  Zeit  hat  er  beim  Coitus  Ejacu- 
latio  praecox  ohne  Erectio  und  gleich  darauf  heftige 
Schmerzen  in  den  Beinen ; kommt  es  dagegen  zur 
lmmissio  und  regelrechten  Ejaculatio,  dann  hat  er 
keine  Schmerzen. 


Diagnose 


a. 


Nihil. 


Sexuell  sehr  libidinös,  aber  seit  der  damaligen  Ent- 
bindung vollkommen  abstinent. 


An. 


Gesteigerte 

Patellar- 

reflexe. 

Gesteigerte 

Patellar- 

reflexe. 


Nihil. 


Druck- 
emplindlich- 
keit  im  Hypo- 
chondrium, 
gesteigerte 
Patcllar- 
rellexe. 


Fluor  albus 
(Gynäkolog. 
Klinik.) 


Masturbiert  seit  4 .fahren  sehr  stark,  noch  kein  Coitus. 


Ne. 


Von  Jugend  auf  masturbiert.  Verkehrt  selten  mit  Pro- 
stituierten. Masturbiert  zur  Zeit  stärker. 


Ne. 


Sie  hat  9 Kinder,  5 am  Leben,  das  letzte  l1^  Jahr  alt.  An.  (und  Mi- 
Die  letzten  4 Kinder  sind  unbeabsichtigt.  Jedes  Mal  grüne), 
sobald  sie  gravid  wurde,  Hess  sic  ihren  Mann  nicht 
mehr  zu;  that  sie  es  hie  und  da  doch,  so  musste  er 
wenigstens  Coit.  int.  üben.  Es  kommt  bei  ihr  zur 
Erregung,  aber  nie  zur  Befriedigung. 


Bis  zum  21.  Jahre,  ehe  er  Gonorrhoe  hatte,  verkehrte 
er  normal.  Aus  dem  Krankenhaus  in  Amerika  ent- 
lassen, fand  er  nicht  gleich  Stellung,  es  ging  ihm 
sehr  schlecht;  Geld  fürPuellae  hatte  er  nicht  u.  „da 
ohneGeld  drüben  kein  Verhältnis  zu  haben  wäre“,  be- 
gann er  zu  masturbieren  bis  auf  den  heutigen  Tag. 
Auch  hier  nach  seiner  Rückkehr  geht  es  ihm  sein- 
schlecht,  infolge  seiner  Energielosigkeit  traut  er  sich 
in  keine  Stellung,  verdient  nichts  u.  meidet  indessen 
auch  jedes  weibliche  Wesen. 


Ne. 


Seit  IG  Mon.  verheiratet.  April  1897  Geburt  eines  as- 
phyktischen  Kindes,  starb  G Wochen  alt  an  Schwäche. 
Schon  seit  Beginn  der  Gravidität  Coit.  int.  wegen 
schlechter  Vermögensverhältnisse.  Der  Mann  leidet 
an  Gonorrhoe;  sie  entbehrt  seitdem  (15  Mon.)  jegliche 
Befriedigung,  weil  der  Mann  auf  sie  keine  Rücksicht 
nimmt. 


An. 


Xo 

Name  uti( 
Stand 

Alter 

Er- 

i 

krank 

seit 

Heredität 
u.  frühere  Er- 
krankungen 

Subjectivc  Beschwerden 

34. 

Julius  P., 
Apo- 
theker. 

25 

5 J. 

Gesunde 
Familie.  1894 
Ulcus  niolle. 
Vorher  mit 
16  Jahren 
Tripper. 

Seit  seiner  Einjährigen-Zeit  1892  fühlt 
er  sich  fast  dauernd  krank,  damals 
war  er  2 Jahre  in  Wien.  Die  Haupt- 
beschwerden waren  Schmerzen  im 
Kreuz,  „als  ob  ihm  ein  Eisen  in 
das  Rückgrat  geschraubt  würde“  und 
Schwäche.  In  Komorrn  1894  Ulcus 
molle;  grosse  Mattigkeit,  dauerte  auch 
noch  1895  in  Miklos  an,  dort  began- 
nen auch  seine  Angstanfälle,  die  hier 
in  Wien  (seit  1896)  fortdauern.  Er 
traut  sich  nicht  in  Kondition  zu 
gehen,  weil  er  fürchtet,  in  der  Zer- 
streutheit die  Rezepte  falsch  anzu- 
fertigen. Ganz  plötzlich  macht  er 
sich  Pläne,  er  möchte  sehr  reich  sein 
oder  auswandern.  Beim  Essen 
schnürt  es  ihm  dicKehle  zusammen, 
aul  derStrasse  fangen  manchmal  die 
Häuser  zu  wanken  an.  Kreuzschmer- 
zen hat  er  jetzt  nur  noch  selten, 
seine  Hauptklagen  sind  Mattigkeit, 
Scheitel-  und  Ilinterhauptschmerz. 
Ferner  leidet  er  an  Pollutionen 
(schon  seit  6 Jahren)  und  wie  er 
glaubt  an  Impotenz.  Stuhl  und 
Appetit,  besonders  seit  einem  Jahre, 
sehr  schlecht. 

35. 

Hernli.  S., 
Tech- 
niker. 

22 

3 M. 

Vater  und 
Mutter  nervös. 

Abends  vor  dem  Einschlafen  Krampf 
im  rechten  Arm  und  linken  Bein  oder 
linken  Arm  und  rechten  Bein,  dabei 
Abduktion  der  Zehen  oder  Finger; 
Angst,  Beklemmung. 

36. 

Aloisia  F., 
Dienst- 
mädchen. 

31 

3 M. 

Operiert  weg. 
Retroflexio 
und  Retro- 
fixatio. 

An  Ilallucinationen  streifende  Empfin- 
dung von  Eindringen  eines  männ- 
lichen Gliedes  in  ihre  Scheide. 
Sehr  starke  Erregung  hervorrufend; 
glaubt  oft  infolgedessen  verfolgt  zu 
werden. 

Somatischer 

Befund 


Anämisch. 
Gesteigerte 
Patellar- 
rellexe.Druck- 
empfindlich- 
kcit  im  Hypo- 
chondrium. 


Nasen- 

polypen. 


Nihil. 


Sexualbeziehungen 


Mit  11  Jahren  sexuelle  Spiele  mit  Knaben.  Von  14  bis 
IG  .Jahren  sehr  stark  masturbiert.  Dann  hörte  er  auf, 
bekam  einige  Male  Pollutionen  und  ging  darauf  (1888) 
in  Pest  sehr  viel  in  Bordelle.  Damals  bekam  er  gleich 
einen  Tripper,  verkehrte  aber  ruhig  weiter.  1891  93 
wohnte  er  bei  einer  Wittwe,  mit  der  er  jeden  Abend 
verkehrte.  6 Mon.  hat  er  Condom  gebraucht,  dann 
machten  sie  sich  beide  „mit  dem  Gedanken  befreundet“ 
und  er  übte  protrahierten  Coitus,  da  er  stets  eher  be- 
friedigt war  als  die  Wittwe.  1893  als  Einjähriger 
fühlte  er  sich  schon  krank  u.  gebrauchte  manchmal 
Condom,  in  Komorrn  besuchte  er  2mal  wöchentlich 
Bordelle;  nach  dem  Ulcus  molle  hat  er  nur  14  Tage 
ausgesetzt.  In  AI ik los  Verhältnis  mit  Stubenmädchen; 
2 mal  wöchentlich  Coit.  int.  Seit  1896  hier  wieder 
Bordelle.  Seit  der  Einjährigen  Zeit  ist  er  fast  ganz 
anästhetisch , geringe  Erection  und  oft  gar  keine 
Ejaculation.  Fast  nach  jedem  Coitus  berührt  er  die 
Genitalien  und  auch  immer  Nachts  um  einzuschlafen. 


Besinnt  sich,  dass  er  schon  als  Kind  oft  Erectionen 
gehabt  hat  u.  sehr  zeitig  zu  masturbieren  angefangen, 
seit  4 Jahren  Verhältnis,  mit  dem  vor  einigen  Monaten 
Zerwürfnis,  jetzt  ganz  abstinct. 


Keine  Jugenderinnerungen.  Vor  G Jahren  ein  Kind; 
seitdem  kein  Verkehr;  schwere  sexuelle  Träume. 
Stets  Bedürfnis  zu  coitieren. 


Diagnose 


Hy.  Ne. 


1 ly.  An. 


Hy. 

(Paranoia?) 


No. 

Name  und 
Stand 

Er- 

Alter  krankt 

Heredität 
u.  frühere  Er- 

Subjective  Beschwerden 

seit 

krankungen 

38. 

39. 

40. 

41. 


Karl  M., 
Buch- 
händler. 


42. 


43. 


Moses  N., 
Tagelöhner 
Louise  R., 
Be- 
dienerin. 

•loseph.B., 

Pflaste- 

rersfrau. 

Marie  M., 
Arbeiter- 
frau. 

•Joseph  K., 
Ci  reisler. 

Joseph  B., 
Agent. 


28 


20 

32 

31 


27 


34 


48 


Nihil. 


Impotenz,  Magcnschmcrz,  Mattigkeit. 


3 .J. 
3 M. 


Nihil. 


Allgemeine  Unruhe,  Kopfschmerz 
Magenschmerz. 


Als  KindCho-  Schmerzen  in  allen  Gelenken.  Mattig- 


rea,  vor  7 Mon. 
Metritis. 
Nihil. 


2 M.  Vor  der  Ehe 
Magen - 
schmerzen. 

Nihil. 


kcit. 


frühst. 

Ju- 


20— 29  Jahre 

lang  chroni- 
scher Magcn- 
katarrh  (?). 


Kopfschmerzen,  Schwindel,  allge- 
meine Angst. 

Kopfschmerzen,  sehr  starke  Periode. 
Ziehen  in  den  Armen  und  Beinen. 


Angst,  zwangsweise  lästiges  Nach- 
denken über  Namen  und  ähnliches, 
dies  quält  ihn  ebenso  wie  vor  neun 
Jahren. 


Somatischer 

Befund 


Sexualbeziehungen 


Diagnose 


Gesteigerte 
Datei  lar- 
rellexe,  Hypo- 
chondral- 
schmerz. 


Hypochon- 

dralschmerz. 

Hypochon- 

dralschmerz. 

Nihil. 


Mit  8 .fahren  musste  er  die  Genitalien  eines  Mannes 
berühren,  die  Details  sind  ihm  nicht  mehr  gegen- 
wärtig, von  diesem  wurde  er  auch  zur  Masturbation 
angehalten,  doch  hat  er  bald  wieder  aufgehört  *und 
erst  später  wieder  begonnen.  Er  glaubt,  dass  er  un- 
gefähr mit  dem  15.  .Jahr  wieder  angefangen  hat.  Mit 
22  Jahren  auf  Anraten  von  Freunden  erster  Coitus. 
Impotenz.  Aus  Scham  2 Jahre  pausiert,  da  seitdem 
gelegentliche  Versuche  stets  negativ  ausgefallen  sind, 
folgte  er  dem  Zwange  zu  masturbieren. 

Masturbiert  seit  dem  10.  Jahre  sehr  stark,  nie  mit 
Frauen  verkehrt. 

Ihr  Mann  hat  eine  Hernie  und  verkehrt  deswegen  nicht 
mit  ihr.  Sie  ist  sehr  sexuell  erregt  und  lässt  sich 
masturbieren  und  masturbiert  sich  selbst. 

Sie  hat  7 Kinder,  seit  dem  letzten  Kind  vor  3 Jahren 
C'oit.  int.,  mangelnde  Befriedigung. 


Hy.  Ne. 


Ne. 


Ne. 


An. 


Leichte  Stru- 
ma, Herz  ge- 
sund, etwas 
anämisch. 
Gesteigerte 
Patellar- 
reflexe. 
Nihil. 

(Im  Ambula- 
torium für 
Magen  k ranke 
negativer  Be- 
fund.) 


Vor  der  Ehe  masturbiert.  Ein  Kind  von  10  Mon.  Seit 
einigen  Monaten  Coitus  reservatus,  trotzdem  der  Mann 
oft  auf  sie  Rücksicht  nimmt,  mangelt  ihr  doch  meist 
die  Befriedigung. 

Seit  12  Jahren  verheiratet,  immer  fast  täglich  verkehrt, 
um  ein  Kind  zu  zeugen.  Macht  sich  Sorgen,  weil 
seine  beiden  Brüder  auch  keine  Kinder  haben. 

Mit  dem  3.  Lebensjahre  von  einem  löjähr.  Mädchen 
verführt,  spielte  er  mit  andern  Kindern  immer  sexuelle 
Spiele  und  masturbierte  bis  zum  15.  Lebensjahre,  es 
wäre  auch  möglich,  dass  irgend  ein  Familienglied 
mit  ihm  sexuelle  Acte  vorgenommen,  doch  besinnt  er 
sich  nicht  genau  darauf.  Mit  17  Jahren  erster  Coitus 
ohne  Befriedigung,  v.  Jaksch  in  Prag  hat  schon  vor 
einer  langen  Reihe  von  Jahren  sein  Magenleiden  aul 
Masturbation  zurückgeführt.  Später  legte  er  sich  beim 
normalen  Verkehr  Zwang  auf,  trotzdem  er  wusste, 
dass  sein  Verhältnis  wegen  einer  Mctritis  keine  Kinder 
bekommen  könne.  Jetzt  ist  er  seit  97  mit  einer  viel 
älteren  Frau  verheiratet,  die  einen  erwachsenen  Sohn 
aus  erster  Ehe  hat;  sie  ist  durchaus  kalt  und  an- 
ästhetisch und  im  Verkehr  mit  ihr  kann  er  trotz 
Erection  und  Ejaculation  keine  Befriedigung  linden. 


An. 


Zweifelhaft. 


Hy-  An. 


No. 


Name  und 
Stand 


Er- 

Heredität 

Alter 

krankt 

u.  frühere  Er 

seit 

krau  klingen 

S u bj  c c t i v c B es c h \v erden 


-14. 


Ludvv.  X., 
Sclmeider- 
gehilfe. 


27 


3 .1. 


Fraisen  als 
Kind. 


Schwäche  im  ganzen  Körper  seit  3 .J. 
.Mit  8 d.  hat  er  sehr  grosse  Furcht 
gehabt  und  angeblich  aus  Furcht 
Fraisen  bekommen.  Ein  paarmal  ist 
er  in  der  Jugend  bewusstlos  gewesen; 
sein  Vater  war  Küster  auf  dem  Lande 
und  nachts  musste  der  Junge  die 
Glocken  läuten.  Um  ihn  zu  er- 
schrecken, haben  einmal  die  Bauern 
Leintücher  angezogen  und  einmal  ist 
ihm  nachts  vom  Thurm  eine  Katze 
auf  den  Kopf  gefallen  (10.  Lebens- 
jahr). Von  jeder  Kleinigkeit  bekommt 
er  Angstgefühl,  im  geschlossenen 
Kaum  stärker  als  auf  der  Strasse,  er 
fürchtet  sich,  er  müsse  sich  um- 
bringen etc. 


45. 


Gustav  V., 
Schneider. 


27 


3 .J. 


Tripper. 


Kopfschmerz,  Magenschmerz. 


4(5. 


Johann  L., 
Kellner. 


30 


2 M. 


Nihil. 


Schmerzen  in  allen  Gliedern,  Angst. 


i < . 


Feld.  K., 
Privat- 
beamter. 


52 


.1  .1. 


Als  Kind 
Blattern, 
schwerhörig. 


Schmerzen  im  Leib,  allgemeine  Un- 
ruhe. 


48. 


Anna  II., 
Hand- 
arbeiterin. 


24 


2 .1. 


Nihil. 


Angst,  oft  unruhig  und  erregt.  Vor 
8 Tagen  Zahn  gezogen,  trotzdem 
die  davon  herrührenden  Schmerzen 
vorüber  sind,  hat  ihre  Erregung 
noch  nicht  nachgelassen. 


49. 


Anna  L., 
Hausbe- 
sorgerin. 


39 


Leidet  seit  einem  Jahre  an  Kopf- 
schmerzen (besonders  am  Hinter- 
kopf), der  stets  beim  Stuhlgang  auf- 
t ritt.  Zur  Zeit  der  Periode  stärker, 
ausserdem  Herzklopfen  und  Beklem- 
mung. 


Somatischer 

Befund 

Sexualbezieh  u n g e n 

Diagnose 

Nihil. 

Vor  dem  10.  Lebensjahre  fing  er  an  sehr  stark  zu 
masturbieren,  setzte  es  ununterbrochen  bis  zum 
18.  Jahre  fort;  dann  erster  Coitus,  dann  wieder 
Masturbation,  bis  vor  4 Jahren,  seitdem  Coit.  int. 

Hy.  An. 

Gesteigerte 

Früher  normaler  Coitus.  Aus  Angst  vor  erneuter  In- 

Ne. 

Patellar- 

rellexe. 

fection  masturbiert  er  seit  3 Jahren. 

Nihil. 

Seit  der  Geburt  des  2.  Kindes  übt  er  jetzt,  um  die  Frau 
nicht  wieder  zu  schwängern  (1  Jahr),  Coit.  int.  ohne 
Befriedigung. 

An. 

Nihil. 

Seit  Jahren  wiederwilliger  und  vergeblicher  Verkehr 
mit  der  bedeutend  älteren  Frau.  Wohl  aber  Be- 
friedigung bei  Excessen. 

An. 

Nihil. 

Hat  seit  3 Jahren  ein  Verhältnis,  verkehrt  mit  Vorsicht 
um  nicht  schwanger  zu  werden;  eine  rechte  Befriedi- 
gung hat  sie  fast  nie,  weil  sie  während  des  Verkehrs 
immer  an  die  unangenehme  Möglichkeit  einer 
Empfängnis  denkt. 

An. 

Nihil. 

Sie  ist  seit  dem  29.  Jahre  verheiratet,  das  erste  Kind 
starb  ein  Jahr  alt  an  Diphtheritis,  hat  noch  3 gesunde 
Kinder,  das  jüngste  3 Jahre.  Nach  der  Geburt  hat 
der  Mann  Coit.  int.  geübt,  sodass  sie  keine  Befriedi- 
gung mehr  hat.  Seitdem  hat  sie  auch  oft  wüste, 
sexuelle  Träume. 

An. 

No. 

Name  und 
Stand 

Alter 

Er- 

k rankt 
seit 

Heredität 
u.  frühere  Er- 
krankungen 

Subjective  Beschwerden 

50. 

L.  0., 
Köchin. 

55 

1 J. 

Nihil. 

Angst,  Herzklopfen,  Schmerzen  vom 
Magen  aus. 

51. 

Klara  S., 
Näherin. 

32 

4 J. 

Nihil. 

Kopfschmerz,  Magenschmerz. 

52. 

Klara  S., 
(Nichte  d. 
Vorigen) 
Schnei- 
derin. 

50 

5 J. 

2 tote  Kinder. 

Kopfschmerzen,  Unruhe,  Angst,  Druck 
um  den  Gürtel  nach  eigener  Angabe 
vom  starken  Schnüren. 

55. 

Johann  K., 
Kellner. 

IS 

2J. 

Nihil. 

Klagt  über  häufige  Kongestionen. 
Kopfschmerz,  Mattigkeit,  Druck  im 
Magen,  trägen  Stuhl.  Voriges  Jahr 
im  Sommer  hat  er  sich  im  Gebirge 
als  Aushilfskellner  sehr  wohl  ge- 
fühlt, nach  seiner  Rückkehr  began- 
nen seine  Klagen  wieder. 

54. 

Leop.  R., 
Köchin. 

27 

1 J. 

Nihil. 

Unlust  zur  Arbeit,  stets  müde,  Magen- 
beschwerden, Schwächegefühl  in  den 
Beinen. 

55. 

Resie  J., 
Ar- 
beiterin. 

29 

4 M. 

Nihil. 

Kopfschmerz,  Zittern,  Angst. 

Somatischer 

Befund 


S e x u al  b e z i e h u n g c n 


Diagnose 


Aeusserst 
kräftige  Per- 
son. (Wegen 
Fluor  albus 
seit  1 Jahr 
gynäkolog. 

Ambulat.) 


Seit  24.  .Jahr  sexuel.  Verkehr.  Verhältnis,  gleich  Coil. 
int.  trotzdem  3 Graviditäten.  Abtreibung  2X3.  Mon., 
1X1.  Monat.  Letzter  Abort  September  1891,  weite- 
rer Verkehr  bis  1893,  bis  „er“  sich  verheiratete. 
„Er“  war  immer  früher  fertig  als  sie,  sodass  sic 
jahrelang  keine  Befriedigung  hatte.  Nach  dem  Ver- 
hältnis hat  sie  eine  Zeit  lang  stark  masturbiert, 
was  sie  jetzt  seit  dem  Fluor  nicht  mehr  tliut.  Sehr 
sexuelle  Träume,  immer  sexuell  erregt,  ohne  jede  Be- 
friedigung. 


Nihil. 


Seit  8 Jahren  Wittwe,  masturbiert  in  den  letzten  Jahren 
sehr  stark. 


An. 


Ne. 


Nihil. 


Schon  mit  13  Jahr  verheiratet  (Galizien).  Ungenügende 
sexuelle  Befriedigung,  da  der  Mann  in  den  letzten 
Jahren  nicht  mehr  leistungsfähig  ist. 


An. 


Lebhafte  Pa- 
tellar  rcllexe, 
Hypochon- 
dralschmerz. 


Libido  mit  14  Jahren  erwacht;  in  ein  Kiichenmädchen 
verliebt,  jedoch  keine  sexuelle  Beziehung.  Mit 
15  Jahren  begann  er  täglich  zu  masturbieren. 
Während  des  Aufenthaltes  im  Gebirge  schlief  er 
vier  Wochen  mit  zwei  anderen  Kellnern  im  Zimmer 
und  liess  die  Masturbation.  Hat  sich  auch  dann 
noch  derselben  14  Tage  enthalten.  Dann  begann 
er  wieder  fast  täglich  zu  masturbieren,  noch  kein 
Coitus. 


Ne. 


Patcllar- 
reflexe 
etwas  ge- 
steigert, 
Hypochon- 
dralschmerz. 


Bis  vor  lWo  Jahren  Verhältnis  mit  normalem  Verkehr, 
stets  gesund;  nach  Lösung  desselben  sexuell  sehr  be- 
dürftig, masturbiert  sie  seitdem;  sexuelle  Träume. 


Ne. 


Nihil. 


4 Kinder,  jüngstes  6 Monat.  6 Wochen  nach  letzter 
Entbindung  Coit.  int.  ohne  Rücksicht  seitens  des 
Mannes. 


An. 


30 


No 

Name  und 
Stand 

Alter 

Er- 

krank 

seit 

Heredität 
u.  frühere  Er- 
krankungen 

56. 

Fanny  G., 
Näherin. 

26 

4 J. 

Nihil. 

57. 

Jakob  K., 
Herren- 
schneider. 

57 

1 J. 

Selbe  Erkran- 
kung vor 
3 Jahren. 

58. 

Lolla  S., 
Modistin. 

20 

3 J. 

Nihil. 

59. 

Herrn.  P., 
Stickerin. 

20 

1 J. 

Nihil. 

60. 

Joh.  K., 
Ver- 
käuferin. 

20 

8 .1. 

Vor  8 Jahren 
Fall  auf  den 
Kopf. 

61. 

Eduards., 
Sch  reiber. 

28 

3 M. 

Kinderkrank- 
heiten. Vor 
7 Jahren 
Magenleiden. 

Subjective  Beschwerden 


i Mit  14  .lahren  trat  Periode  zuerst  auf, 
während  dem  fiel  sie  mit  den  Geni- 
talien aut  eine  Stuhlkante,  die  Bin- 
tungen  blieben  aus  und  kehrten  erst 
im  17.  Jahre  wieder,  von  da  an 
regelmässig.  Seit  dem  22.  Jahre 
fühlte  sie  sich  krank,  Schmerzen  in 
der  Magengegend,  schlechter  Appe- 
tit, Kopfschmerz,  besonders  in  der 
Schläfengegend.  Weihnacht  1896 
wegen  Vaginismus  operiert,  seitdem 
hat  der  Magenschmerz  aufgehört; 
dagegen  Kreuz-  und  Schulterblatt- 
schmerzen im  Mai  diesen  Jahres  an- 
gefangen, dazu  kommen  Unruhe  und 
unbestimmtes  Angstgefühl.  Tage- 
weise ist  sie  von  den  Beschwerden 
frei. 

Allgemeine  Angst,  besonders  auf  der 
Strasse,  Schwindel.  Kribbeln  in  den 
Füssen,  sodass  er  sich  zeitweilig 
hinsetzen  muss. 

Allgemeiner  Kopfschmerz,  Magen- 
schmerz. 


Kopfschmerz,  Schwindel,  allgemeine 
Angst. 

Schlaflosigkeit,  Kopfschmerz,  allge- 
meine Angst. 


Schmerzen  in  der  Wirbelsäule,  Magen- 
schmerzen. 


31  — 


Somatischer 

Befund 


S e x u a 1 b e z i e li  u n g e n 


Diagnose 


Nihil. 


Schon  als  kleines  Kind,  es  könne  im  8.  Jahr  gewesen 
sein,  hätte  sie  gar  nicht  stehen  können,  weil  sie  ein 
Gefühl  gehabt,  als  ob  sie  ein  Messer  in  den  Geni- 
talien hätte,  das  sie  bei  jeder  Bewegung  schneide; 
sie  hat  „die  Geschlechtsteile  hineindrücken  müssen“ 
oder  mit  kaltem  Wasser  übergossen  und  sich  dann 


Hy.  An. 


besser  gefühlt,  Masturbation  wird  energisch  in  Ab- 
rede gestellt.  Mit  19  Jahren  lernte  sie  den  Bräutigam 
kennen;  1 Jahr  lang  hat  er  sie  in  Ruhe  gelassen, 
dann  wollten  sie  verkehren,  da  sie  aber  stets  Scheiden- 
krampf bekam,  war  dies  unmöglich.  So  hat  sie  faute 
de  mieux  ihr  Bräutigam  bis  zur  Operation  masturbiert. 
Nach  der  Operation  ging  die  Immissio  glatt  von 
statten,  dagegen  fehlt  ihr  wegen  Coit.  int.,  bei  dem 
„er“  keine  Rücksicht  auf  sie  nimmt,  jegliche  Befriedi- 
gung. Wenn  sie  manchmal  14  Tage  nicht  verkehrt 
haben,  geht  es  ihr  besser. 


Nihil. 


Früher  Jahre  lang  Coit.  int.,  dann  2 Jahre 
jetzt  seit  1 Jahr  wieder.  Rücksichtsvoll 
Frau. 


pausiert, 
gegen  die 


An. 


Hypochon- 
dralschmerz, 
gesteigert.  Pa- 
tellarreflexe. 


Heftige  Masturbation  seit  dem  16.  Jahre. 


Nihil. 


Nihil. 


Patellar- 

reflexe, 

Hypochon- 

dralschmerz. 


Seit  l1^  Jahren  Verhältnis,  übt  um  nicht  schwanger 
zu  werden  Coit.  int.,  der  sic  sehr  aufregt,  aber  nicht 
befriedigt, 

Ihre  sexuelle  Entwicklung  ist  zeitig  eingetreten.  Periode 
schon  mit  13  Jahren.  Ebenso  begannen  die  Brüste  u. 
die  Schamgegend  sich  sehr  bald  zu  entwickeln.  Zeitig 
traten  sexuelle  Träume  ein,  häufige  sexuelle  Erregung 
beim  Anblick  von  Männern.  Nicht  eruierbar  ob  in 
ihrer  frühesten  Jugend  irgend  welche  sexuelle  Ein- 
wirkungen vorliegen. 

Bis  vor  7 Jahren  masturbiert,  dann  bis  vor  1 Jahre 
Coit.  int.  Da  er  aber  selbst  glaubte,  dass  dies  ihn 
zu  sehr  aufrege,  stellte  er  ihn  ein,  verkehrt  jetzt  nur 
selten  mit  Prostituierten.  Masturbiert  aber  wieder. 


Ne. 


An. 


Ily.?  An. 


Ne. 


No. 

Name  und 
Stand 

Alter 

Er- 
k rankt 
seit 

Heredität 
u.  frühere  Er- 
kran  klingen 

62. 

Leon.  M., 
Hand- 
arbeiterin. 

32 

7,  j. 

Nihil. 

66. 

Marie  L., 
Privatiere. 

21 

1 J. 

Nihil. 

6J. 

Max  11., 
Kauf- 
mann. 

27 

2 J. 

Ganze  Familie 
nervös,  Vater, 
Mutier,  2 Brü- 
der,! Sch  west. 
Vor  8 Jahren 
Pneumonie. 

65. 

Ignaz  P., 
Kauf- 
mann. 

36 

1 J. 

Nihil. 

66. 

Adolf  II., 
Con- 
ducteur. 

27 

4 W. 

Nihil. 

67. 

Theros.S., 

Arbeiter. 

36 

4 J. 

Nihil. 

68. 

Alice  M., 
Privatiere. 

30 

1 J. 

Nihil. 

(2  Kinder  an 
Kinderkrank- 
heit, f.)  Vater 
Paralyse  y. 

69. 

Hcinr.  S., 
Kutscher. 

33 

Einige 

Woch. 

Lues,  Bubon. 
vor  JL2Jahren. 

70. 

Marie  C., 
Hand- 
arbeiterin. 

26 

5 J. 

Nihil.  Kind  im 
Alter  von  6 M. 
im  Jan.  97  y. 

71. 

-Joseph  W., 
Schneider. 

30 

2 J. 

Tripper. 

72. 

Isidor  K., 
Agent. 

47 

Jahre 

unbe- 

stimmt 

Nihil. 

Subjeotive  Beschwerden 


I ’ariist liesien  beider  Hände,  Angst. 


Kopfschmerz,  Erregtheit,  Angst. 
Impotenz;  im  kalten  Wasser  Erguss. 

\\  irbelschmerzen,  Magenschmerzen. 
Pollutionen,  Angst. 

Unruhe,  Angst,  Kopfschmerz. 

Kopfschmerzen,  Angst,  Unruhe. 
Allgemeine  Angst,  Unruhe. 


Pampstiges  Geliihl,  allgemeine  unan- 
genehme Sensationen. 

Kopfschmerz,  Angst,  Unruhe,  morgens 
Schwindel. 

Angst,  Kältegefühl  am  Rücken. 


Angst  und  Kopfschmerz,  Herzklopfen. 


33 


Somatischer 

Befund 


Sexualbeziehunge  n 


Di 


agnose 


Nihil. 


[lat  mit  29  .Jahren  geheiratet.  Das  Kind  ist  zwei  Jahre 
alt,  darauf  hat  sie  gegen  die  Conception  jedes  Mal 
Ausspülungen  gemacht,  auf  Anraten  einer  Freundin; 
da  ihr  aber  das  nicht  sicher  genug  war,  übt  ihr  Mann 
Coit.  int.  seit  einem  .Jahr;  seitdem  hat  sie  wenig  Ver- 
gnügen davon. 


An. 


Nihil. 


Verlobt,  sexuell  erregt,  verkehrt  seit  2 Jahren  mit  Coit. 
int.,  was  ihrem  sexuellen  Bedürfnis  aber  nicht  genügt. 


An. 


Nihil. 


Schon  als  Kind  onaniert,  weiss  nicht,  wer  ihn  dazu  an- 
gehalten, seine  Brüder  hätten  es  auch  gethan.  ln  den 
ersten  Jahren  der  Ehe  (seit  1887)  täglicher  Verkehr 
mit  der  Frau,  keine  Kinder.  Seit  2 Jahren  beim  Coitus 
keine  Ejaculationen  mehr. 


Hy. 


Gesteigerte 

Patellar- 

reflexe. 

Gesteigerte 
Pate  11  ar- 
rellexo. 

Nihil. 

Nihil. 


Jüngstes  Kind  3 Jahre,  seit  2 Jahren  Coit.  int.  Auf 
Rücksicht  auf  die  Frau  pratrahiert,  Befriedigung  nur 
durch  Masturbation. 

Seit  3 Monaten  ganz  abstinent,  da  er  fürchtet,  von  Pro- 
stituierten auch  eine  Lues  zu  bekommen,  wie  2 seiner 
Freunde. 

Jüngstes  Kind  6 Jahre,  seit  5 Jahren  Coit.  int.  Schlechte 
Verhältnisse,  keine  Befriedigung. 

Schon  als  kleines  Mädchen  stark  masturbiert,  keine 
klare  Erinnerung.  Ist  seit  1 J.  von  ihrem  Mann  ge- 
schieden, seitdem  sehr  sexuell  libidinös,  abstinent. 


An.  Ne. 
An.  (Ne.?) 


An. 

Hy.  ? An. 


Nihil. 

Nihil. 


Nihil. 


Nihil. 


Seit  7 Jahren  von  der  Frau  getrennt,  lebt  völlig  ab- 
stinent. 

Seit  6 Jahren  Verhältnis,  Coit.  int.  nach  der  Geburt 
des  Kindes  kein  Verkehr  mehr,  lässt  sich  nur  von 
dem  „Bräutigam“  frustran  erregen. 

Pollutionen  seit  einigen  Jahren  im  Schlaf,  seitdem  er 
an  der  8 Jahre  älteren  Frau  keine  Befriedigung  mehr 
findet. 

Ausser  Nicotin-  und  Alkoholmissbrauch  seit  der  Ge- 
burt des  letzten  Kindes  vor  7 Jahren  Coit.  int.  mit 
unvollständiger  Befriedigung. 


Tabes  in ci- 
piens. 

An. 


An. 

An. 


Gattet,  Sexuelle  Ursachen  der  Neurasthenie. 


3 


34 


No. 


Name  und 
Stand 


Kr- 


Heredität 


Alter  krankt  u.  frühere  lä- 


sen 


.Subjektive  Besch \ve rcleii 


krank ungen 


74. 


<0. 


1 1 , 


18. 


71). 


Marie  Z., 
Wirt- 
schafterin. 


42 


24 


Anton.  G., 
Arbeiter. 

Amalie  S.,  35 

Schneiderin 

Rosa  F., 

Dienst- 
mädchen. 


.fahre. 


Nihil. 


38 


1 d. 
8 M. 
4 M. 


Nihil. 

Nihil. 

Nihil. 


Gustav  A. 
Agent. 


Jakob  G., 
Kau  f- 
mann. 


Marie  B., 
Bank- 
kassirers- 
frau. 


81 


1 .J.  j Alcoholismus 
chronicus. 


49  2 J.  Rheumat. 

articul. 


39  2Va 


80. 


81. 


82. 


Rudolf  F., 
Soldat. 

Regina  F., 
Pri  vatiere. 

doseph  II., 
Tele- 
graphist. 


24 


Migräne. 


3 1. 


22  2 J. 


40 


Meh- 

rere 

Jahre. 


Onkel  i.  Irren- 
haus j.  2 mal 
Pneumonie. 
Nihil. 


Nihil. 


I iirulie,  Angst,  Kopfschmerz. 


Kopfschmerz,  Angst. 

Kreuzschmerzen,  Beklemmungen,  Un- 
ruhe, schlechter  Appetit. 
Kreuzschmerzen,  Beklemmungen. 


Schwäche,  Mattigkeit,  Zittern  beim 
Schreiben. 


Schwäche,  Mattigkeit,  oft  Unruhe, 


Seit  ca.  7)  Jahren  grosse  Mattigkeit, 
energielos;  sie  geht  ungern  aus,  da 
sic  auf  der  Strasse  oft  ängstliche 
Gefühle  bekommt.  Seit  21/.,  .1.  hat 
sich  ihre  Migräne  verstärkt  und  dazu 
noch  Magenschmerz,  Appetitlosigkeit, 
träger  Stuhl  gesellt,  ln  dem  Ambulat. 
iiir  Magenkranke  wurde  keine  orga- 
nische Krankheit  diagnosticiert. 

Herzklopfen,  häufige  Angstanfälle  im 
Dienst,  sodass  er  nicht  mit  den  Vor- 
gesetzten sprechen  kann. 

Angst. 


Kopfschmerzen,  Angst,  Zittern. 


Somatischer 

Befund 


Nihil. 


Nihil. 

Gest.  Patel- 
larrefiexe. 
Gesteigerte 
Patellar- 
retlexe. 

Gesteigerte 

Patellar- 

rellexe. 

Nihil. 


Erhöhte  Pa- 
tcllarrellexe. 


Nihil. 


Gesteigerte 

Patellar- 

reflexe. 

Nihil. 


S c x u albe  z i e h u n g e n 

Diagnose 

Vor  IG  Jahren  2 Kinder,  lebt  jetzt  als  Wirtschafterin 
bei  einem  ältlichen  Postconductcur.  Da  sie  sehr 
libidinös  ist,  kann  er  sie  durch  den  Coit.  int.  nicht 
befriedigen. 

An. 

Hat  zwei  uneheliche  Kinder,  seit  2 Jahren  jeden  Ver- 
kehr gemieden,  trotz  Libido. 

An. 

Vor  1 Jahr  uneheliches  Kind,  seitdem  Coit.  int.  et 
rarus;  wegen  mangelnder  Befriedigung  Masturbation. 

Ne. 

Vor  10  Jahren  uneheliches  Kind,  seitdem  abstinent  aus 
Widerwillen.  Seit  3/4  Jahren  wieder  Verhältnis,  von 
dem  sie  sich  nur  masturbieren  lässt. 

Ne. 

Früher  sehr  stark  masturbiert,  jetzt  auch  noch  bei 
gleichzeitigem  Coit.  int.,  da  letzterer  ihn  nicht  be- 
friedigt. 

Ne. 

Bis  zum  30.  Jahre  Masturbation.  3 Kinder,  jüngstes 
12  Jahre.  Seit  ca.  4 Jahren  trotz  grosser  Libido  ab- 
stinent, weil  er  fürchtet,  sein  Rheumatismus  könne 
durch  Sexualverkehr  in  seinen  Jahren  wiederkommen. 

An. 

Seil  dem  25.  Jahre  verheiratet,  hat  sie  2 Kinder, 
jüngstes  7 Jahre.  Früher  normaler  Verkehr.  Nach 
Geburt  des  letzten  Kindes  wollte  ihr  Mann  nur  noch 
Coit.  int.  ausüben,  da  ihm  seine  Stellung  kein  drittes 
Kind  erlaubt.  Trotz  grosser  Libido  ist  sie  seitdem 
nicht  mehr  befriedigt.  Seit  3 Jahren  lässt  sie  sich 
nach  dem  Coit.  von  ihrem  Manne  masturbieren,  um 
zur  Befriedigung  zu  kommen.  Kein  häufiger  Coitus. 

Ne.  An. 

Als  Knabe  starke  Pollutionen,  schon  mit  8 Jahren  hat 
er  mit  Buben  unsittliche  Spiele  gespielt.  Codiert 
jeden  2.  Tag. 

Hy. 

Seit  3 Jahren  Coitus  reservatus  mit  ihrem  Verhältnis, 
da  keine  Befriedigung,  berührt  sic  sich  oft  nachher 
die  Genitalien. 

An.  Ne. 

Patient  ist  seit  17  Jahren  verheiratet  und  hat  10  Kinder. 
Wegen  schlechter  Vermögensverhältnisse  übt  er  schon 
seit  dem  3.  Kinde  Coit.  int.,  also  seit  13  Jahren.  Da 
er  auf  seine  Frau  Rücksicht  nimmt,  ist  seine  Absicht 
7 mal  vereitelt  worden.  Bemerkenswert  ist,  dass  er 
auch  während  der  Graviditäten  seiner  Frau  nicht 

An. 

normal  coitiert  hat. 

3* 


36 


No. 


N.'l. 


84. 


85. 


86. 


87. 


88. 


80. 


Name  und 
Stand 

Alter 

Er- 

krankt 

seit 

Heredität 
u.  frühere  Er- 
krankungen 

Subjektive  Beschwerden 

Franz  1., 
Amts- 
diener. 

41 

0 J. 

Vor  16  Jahren 
Lues. 

Schmerzen  im  ganzen  Körper.  „Krib- 
beln und  Zucken  in  allen  Nerven.“ 

Franz  G., 
Typo- 
graph. 

23 

4 .1. 

Schwerhörig 
durch  Scarla- 
tina  in  der 
.1  ugend. 

Abgeschlagenheit,  zeitweilig  sehr  un- 
ruhig und  aufgeregt,  oft  obstipiert, 
Magenschmerzen. 

Ludw.  \V., 
Schneider. 

20 

6 M. 

Vor  3 Jahren 
dieselbe  Er- 
krankung. 

Ziehen  in  den  Waden,  Schmerzen 
zwischen  den  Schulterblättern. 

Leop.  W., 
Cafetier. 

37 

2 .1. 

Vor  16  Jahren 
Lues : 4 Jahre 
darauf 
Schmierkur; 
war  bis  vor 
2 Jahr,  völlig 
gesund. 

Es  begann  vor  2 .1.  ängstliches  Ge- 
fühl, Kopfschmerz,  und  seit  einigen 
Wochen  Kribbeln  in  den  Händen  und 
Füssen. 

Anton  B. 

15 

4—6 

Woeh. 

Vor  6 Jahren 
Sturz  v.  einem 
Wagen,  Ge- 
ll irnersch  (itte- 
rung. 

Kopfschmerz,  Schwindel,  Schwäche. 

NachimT., 

Hausierer. 

42 

8—10 

•lahre. 

Typhus  vor 
13  Jahren. 

Grosse  Müdigkeit,  Ziehen  in  den  Glie- 
dern, Verstopfung,  Beklemmung. 

Gittel  T., 
Frau  des 
Vorigen. 

40 

6 J. 

Nihil. 

Kältegefühl  im  Kücken,  Kreuzschmerz, 
allgemeine  Angst. 

Somatischer 

Befund 


lieber  beiden 
Nerv,  tibial. 
post.  Narben 
von  früherer 
Nervendehng. 
Sonst  normal. 

Gest.Patellar- 
refl. , Tremor 
d.  Hände  und 
Zunge,  Hypo- 
chondral- 
schmerz. 

Gesteigerte 

Patellar- 

reflexe. 

Somatisch 
nichts.  Reflexe 
und  Sensibili- 
tät durchaus 
prompt  und 
normal. 

Gesteigerte 
Patellar- 
reflexe, 
Hypochon- 
dralsch  merz. 

Nihil. 


Nihil. 


Sexualbezieh  u ngen 


Diagnose 


Begann  mit  14  Jahren  zu  masturbieren  und  setzte  dies  Hy.  Ta.? 
bis  zum  30.  Jahr  fort.  Im  24.  Jahre  coitierte  er  ein- 
mal und  acquierte  Lues;  seit  seiner  Verheiratung  vor 
11  Jahren  ist  er  oft  impotent.  Frau  nie  gravid  ge- 
wesen. Nur  wenn  er  erfolgreich  coitiert,  sind  seine 
Schmerzen  geringer. 

Vor  6 Jahren  erster  Coitus,  da  ihn  die  Prostituierten  Ne. 
abstiessen,  masturbierte  er  sehr  stark,  jetzt  auch 
Pollutionen. 


Hat  bis  vor  3 Jahren  masturbiert  und  auf  Anraten  des  Ne. 
Arztes  aufgehört.  Dann  normal  mit  Prostituierten 
verkehrt,  masturbiert  jetzt  wieder  seit  3/4  Jahren. 

I Seit  8 Jahren  verheiratet.  Frau  hatte  1 Abort.  2 Kinder  An. 
gesund,  jüngstes  4 Jahr.  Kommt  Nachts  spät  aus  dem 
Geschäft  in  die  Wohnung  und  muss  trotz  Müdigkeit 
cohabitieren  (2 mal  wöchentlich).  Seit  dem  letzten 
Kind  Coit.  int.  aber  um  die  Frau  zu  befriedigen,  hält 
er  möglichst  lange  zurück. 


Masturbiert  bis  dreimal  täglich  seit  seinem  Unfall  vor 
0 Jahren. 


Ne.  lfy.? 


Heiratete  mit  18 Jahren,  hat  6 Kinder,  jüngstes  lOJahre.  An. 
Frau  zur  Zeit  wieder  gravid.  Schon  nach  dem  zweiten 
Kinde  (vor  12  Jahren)  begann  er  Coit.  int.,  also  vom 
3.  Kinde  ab  unfreiwillige  Schwängerungen.  Er  ist 
viel  von  Hause  weg,  übt  aber  auch  dann  bei  andern 
Frauen  Coit.  int. 

G Kinder,  zur  Zeit  gravida.  Mann  übt  Coit.  int.,  so-  An. 
dass  sie  keine  Befriedigung  hat.  Wenn  er  verreist  ist, 
geht  es  ihr  gut,  während  es  ihr  immer  schlecht  geht, 
während  er  zu  Haus  ist. 


No. 

Name  und 

Er- 

Heredität 

Stand 

Alter 

krau  kt 

u.  frühere  Er- 

seit 

krau  klingen 

90. 


Innoc.  II., 
Beamter. 


• >< 


2 — 3 Vor  4 Jahren 
M.  Magen - 


S u bjek live  Besch werd en 


Ejaculatio  praecox.  ängstlich,  aufge- 
regt. 


schmerzen. 


91. 


Heinr.  B., 
Graveur. 


20 


1 J. 


Vor  2 Jahren 
dieselbe  Er- 
krankung. 


1895  fühlte  er  sich  zum  l.Mal  krank: 
Kopfschmerzen,  Mattigkeit.  Magen- 
beschwerden. Damals  ging  er  zum 
Arzt,  fühlte  sich  mehrere  Wochen 
besser;  seit  1896  hat  er  aber  wieder 
dieselben  Erscheinungen  und  das 
Gefühl  täglich  schwächer  zu  werden. 


92. 


Johann  L., 
.Sicher- 
heits- 
beamter. 


»> 
. > 


Von  89 — 92 
ähnliche  Er- 
krankung. 


Einige  Jahre  vor  der  Hochzeit  1892 
hat  er  sich  schon  ähnlich  krank  ge- 
fühlt. Angst  und  Schwitzen.  Jetzt 
ist  noch  Kreuzschmerz  und  Schmerz 
zwischen  den  Schulterblättern  hin- 
zugekommen. 


93. 


Martin  P., 
Beamter.  I 


mit 

Inter- 

vallen. 


Seit  5 Jahren  ist  er  sehr  glücklich 
verheiratet,  hat  aber  jetzt  Zustände, 
wie  er  sie  früher  nie  gekannt  und 
wenn  er  sie  auch  nicht  für  ernst 
hält,  ist  er  ängstlich  es  möchte  doch 
einmal  etwas  schlimmeres  daraus 
werden.  Zuweilen,  wenn  er  auf  der 
Strasse  geht,  kann  er  sich  nicht  ent- 
schlicssen  gerade  hinüber  zu  gehen, 
ebenso  geht  er  nicht  gern  über  einen 
freien  Platz,  doch  zwingt  er  sich 
dazu  und  bringt  es  dann  fertig. 
Diese  Zustände  hat  er  gehabt  Winter 
1893,  Herbst  1895,  Sommer  1897  bis 
jetzt.  Kaltwasserkur,  die  er  Sommer 
1895  gebraucht,  gar  keinen  Effekt, 
da  er  sich  sehr  nach  Hause  gesehnt 
habe. 


Somatischer 

Befund 


Nihil. 


Gesteigerte 
Pateilar- 
reilexe,  leich- 
ter Tremor 
beider  Hände. 


Nihil. 


Durchaus 

kräftiger 

Mann. 


S e x u al  b ez  i eh  un 


gen 


Diagnose 


Als  kleines  Kind  auf  dem  Lande  mit  andern  Kindern 
sexuelle  Spiele.  Masturbierte  von  14Jahrcn  an.  Coitus 
hat  ihn  nie  befriedigt.  Ejaculation  zu  früh  oder  gar 
nicht.  9 Jahre  verheiratet,  keine  Kinder,  bis  vor 
4 Jahren  von  der  Frau  masturbiert. 


Hy.  An. 


Mit  12  Jahren  1.  Erection.  \'om  l.'>.  Jahre  auf  Veran- 
lassung von  Spielkameraden  zuerst  masturbiert  bis 
zum  17.  Jahre.  Nach  dein  der  Arzt  ihn  auf  die  Schäd- 
lichkeit (1897))  aufmerksam  gemacht,  liess  er  cs  einige 
Wochen,  jetzt  hat  er  ständig  nachts  Kreolinnen  und 
giebt  auch  zu,  zu  masturbieren.  Koch  kein  Coitus. 


NTe. 


Seit  dem  28.  Jahre  verheiratet.  2 Kinder  ganz  klein 
gestorben.  Verkehrt  regelmässig  mit  der  Frau.  Da  er 
aber  sehr  schnell  zur  Ejaculation  kommt,  giebt  er 
sich  Mühe,  sie  hinauszuschieben,  bis  die  Frau  be- 
friedigt ist.  Mit  16  Jahren  erster  Coitus,  zwischen 
18  u.  20  Jahren  Pollutionen.  Auf  dem  Lande  erzogen, 
zwar  nicht  mit  Mädchen  zusammen  gekommen,  aber 
sehr  früh  schon  sexuell  libidinös. 


An. 


Er  hat  als  16 — 1 7 Jähr.  Junge  masturbiert.  Bald  aber 
nachgelassen  und  mit  18  Jahren  coitiert.  Seine  Potenz 
war  stets  regelmässig  und  befriedigend.  1892  hat  er 
geheiratet,  normal  verkehrt.  Jedes  Mal  vom  5.  Monat 
der  Schwangerschaft  an,  hat  er  seine  Frau,  weil  er 
glaubt,  es  schade  ihr,  ganz  geschont,  somit  war  er 
mindestens  je  6 Monate  abstinent.  93  März  1.  Kind, 
95  Sept.  2.  Kind,  schwere  Geburt,  97  Juli  3.  Kind. 
Nach  dem  2.  Kinde  war  die  Frau  längere  Zeit  krank, 
daher  die  Abstinenzzeit  verlängert.  Er  glaubt  selbst, 
dass  seine  Angstanfälle  damit  Zusammenhängen. 


An. 


40 


Name  und 

Heredität 

No. 

Stand  ! Alter  kraukl 

u.  frühere  Er- 

Subjektive  Beschwerden 

seit 

krankungen 

94. 


95. 


90. 


97. 


98. 


99. 


Ella  L., 
Buch- 
halterin. 


Betty  l\., 
Postamt- 
dieners- 
frau. 

Paul,  k., 
Schneider. 


Adolf  K., 
Beamter. 


Theres.P. 

Photo- 

graphen- 

frau. 


Johann  E., 
Post- 
beamter. 


84 


19 


45 


29 


28 


Nihil. 


39 


3 W. 


4 .J. 


9 

• ) 


Mit  20  Jahren 
Rheum.  artic. 
3 Aborte  in 
4 Jahren. 

Nihil. 


Nihil. 


Nihil. 


Vor  9 Jahren 
Tripper. 


Angst,  Unruhe,  Beklemmung,  manch- 
mal Schwindel. 


Seit  3 Jahren  Kopfschmerz,  Scheitel  - 
druck,  Hitze-  u.  Kältegefühl,  Angst, 
Beklemmung,  Herzklopfen. 


Kopfschmerzen,  Magenseh  merzen, 
schlechter  Stuhlgang. 


Unruhe  während  der  Dienstzeit,  Auf- 
regung zu  Haus,  allgemeines  Angst- 
gefühl. 

Magenschmerz,  plötzliche  Böte  und 
aufsteigende  Hitze  im  Gesicht,  un- 
regelmässiger Stuhlgang. 


Seit  1 Jahre  iiberkommt  ihn  im  Dienst 
oft  eine  Beklommenheit,  die  ihn  an 
der  prompten  Ausführung  seiner 
Arbeit  hindert.  In  bestimmten  Zeit- 
räumen, die  er  auf  ungefähr  drei 
Wochen  taxiert,  befällt  ihn  wenn  er 
allein  ist,  eine  grosse  nicht  genau 
umgrenzte  Angst,  die  sich  zwar 
etwas  legt,  wenn  er  bei  seinen  An- 
gehörigen ist,  meist  aber  erst  nach 
kalten  Kompressen  auf  Kopf  und 
1 1 erz  n ach  ei n i gen  Stu nden  sch w i nd et . 


41 


Somatischer 

Befund 


Nihil. 


Sexualbezieh  u n g e n Diagnose 


Sic  ist  seit  7 Jahren  verheiratet,  hat  keine  Kinder.  In  An. 
den  ersten  2 Jahren  der  Ehe  verkehrte  sie  normal  mit 
ihrem  Mann,  dann  constatierte  der  Arzt,  dass  ihr 
Mann  Diabetes  habe,  seitdem  hat  der  Mann  nicht 
mehr  mit  ihr  verkehrt,  trotzdem  sie  es  entbehrt, 
nötigt  sie  ihn  doch  nicht  zum  Verkehr,  weil  sie 
fürchtet,  es  könne  ihm  schaden. 


Nihil. 


Seit  dem  2.  Kind  vor  4 Jahren  Colt,  int.,  weil  sie 
gleich  in  die  Hoffnung  kommt,  Befriedigungen  hat  sie 
seit  dem  gar  nicht  mehr. 


An. 


Nihil. 


Nihil. 


Nihil. 


Nihil. 


Hat  von  14 — 15  Jahren  masturbiert,  dann  3 Jahre  ein 
Verhältnis  gehabt,  nach  Lösung  desselben,  vor  drei 
Monaten,  masturbiert  sie  wieder. 

Er  ist  seit  10  .Jahren  verheiratet,  3 Kinder,  jüngstes 
üJahre.  Seit  dessen  Geburt  Coit.  int.  wegen  schlechter 
Vermögensverhältnisse. 

Patientin  hat  vom  17.  bis  ca.  22.  Jahre  onaniert,  dann 
heiratete  sie,  bekam  im  24.  Jahre  ein  Kind.  Hat  nie 
bes.  Befriedigung  durch  den  Coitus  gefunden,  sodass 
sie  hin  und  wieder  sich  nach  demselben  die  Geni- 
talien berührte.  Seitdem  nun  ihr  Mann  nach  der  Ge- 
burt des  Kindes  (vor  4 Jahren)  Coit.  int.  ausübt, 
fehlt  ihr  jegliche  Befriedigung  und  masturbiert  sie 
sich  daher  regelmässig. 

Mit  17  Jahren  hat  er  sehr  bescheiden  masturbiert,  ist 
aberbald  in  normalen  Verkehrgetreten.  Seit2y2  Jahren 
ist  er  verlobt;  hat  seine  Braut  sehr  lieb  und  wie  er 
zugiebt,  kommt  es  bei  ihrem  Zusammensein  oft  zu 
kleinen  Uebergrilfen,  jedoch  nie  zum  Verkehr.  Er 
wird  dadurch  ausserordentlich  aufgeregt,  besonders 
da  er  seit  seiner  Verlobung  mit  keinem  andern 
Mädchen  verkehrt  hat. 


Ne. 


An. 


Ne. 


An. 


42 


Name  und 

Er- 

Heredität  , 

No. 

Stand 

Alter 

krankt 

u.  frühere  Er-  Subjektive  Beschwerden 

seit 

Kränkungen 

100. 


Kosa  15.,  2M  Einige  Mutter  nervös  Sieklagt  über  Magenschmerzen,  Kreuz- 
Dienst-  Jahre.  gewesen.  schmerzen, Mattigkeit  in  den  Beinen, 

mädchen.  i hat  auf  Anraten  schon  zweimal  eine 

Bandwurmkur  durchgemacht,  jedoch 
ohne  Erfolg,  insofern  sich  niemals 
ein  Bandwurmglicd  im  Stuhl  ge- 
zeigt hat. 


Auf  den  vorhergehenden  Seiten  habe  ieli  der  Reihe  nach  di»' 
1\ rankongeseliichton  wiedergegeben,  so  wie  sie  zur  Beobacht ung  kamen, 
und  ich  gehe  jetzt  zur  kritischen  Besprechung  über. 

I rennt  man  zunächst  die  100  Krankem  nach  ihrem  Geschlecht:, 
so  ergeben  sich: 

.Männer 58 

Weiber 42 

Natürlich  ist  diese  kleine  Summe  keineswegs  dazu  zu  verwerten, 
einen  Schluss  aul  die  prozentische  Beteiligung  beider  Geschlechter  an 
dmi  Neurosen  zu  ziehen,  das  wäre  erst  an  der  Hand  von  lausenden 
von  Fällen  möglich. 

Es  muss  einem  jeden  Betrachter  zuerst  in  die  Augen  lallen,  dass  auch 
bei  keinem  einzigen  der  Ra.tient.cn  sich  das  findet,  was  man  für  gewöhn- 
lich unter  einem  normalen  Geschlechtsleben  versteht;  dabei  schlicsse 
ich  sogar  den  einen  von  mir  selbst  als  zweifelhaft  bezeiehueten  Fall 
iNu.  42)  nicht  aus.  Auch  diesen  habe  ich  genau  in  der  Reihenfolge,  wie 
er  zur  Beobachtung  kam,  notiert,  um  gerade  dadurch  zu  zeigen,  dass 
(‘s  auch  fälle  geben  kann,  die  sich  absolut  nicht  unterbringen  lassen. 

Man  kann  mir  zwar  entgegenhalten,  dass  viele  Menschen  keinen 
normalen  Geschlechtsverkehr  oder  überhaupt  irgend  einen  sexuellen  De- 
Ickt  haben  und  trotzdem  gesund  sind.  Zugegeben!  Meinerseits  möchte 
ich  aber  behaupten,  dass  alle  jene,  die  an  einer  wirklichen  Neurose 
kranken,  irgend  eine  Bnregelmässigkeii  in  ihren  Sexualbeziehuugen  haben 
mul  ferner  dass,  wenn  Patient  X bis  heute  trotz  anormalen  Geschlechts- 
lebens sich  sehr  wohl  befindet,  ich  nicht  dafür  einstehen  möchte, 


43 


Somatischer 

Befund 

Sexualbeziohu  ngen 

Diagnose 

Anämisches 
Mädchen.  Er- 
rötet leicht 
Magen-,  Hypo- 
chon dral- 
sclimerz. 

Nach  einigem  Zögern  giebt  sie  zu,  dass  sie  schon  seit 
dem  Hi.  Jahre  heftig  masturbiert.  Coitus  hat  sie  aus 
Furcht  noch  nie  ausgeübt. 

\e. 

nicht  schon  morgen  gerade  diese  Schädlichkeiten  einige  Symptome  zei- 
tigen werden. 

Nach  Lebensaltern  geordnet  verteilen  sich  die  100  Fälle  auf  die 
Decennien : 


10 — 20  Jahre 

. . 5 

20—30  „ . . 

. . 4(1 

30—40  „ . . 

. . 32 

40—50  „ . . 

. . 13 

über  50  „ . . 

. . 4 

Summa  100 


Die  meisten  Erkrankungen  fallen  also  hier  in  das  Üeoonnium,  in 
weh-hem  sich  die  Geschlechter  im  Durchschnitt  vor  der  Eheschliessung 
befinden.  Am  nächsten  kommt  dann  das  Alter,  in  dem  2 — 3 Nach- 
kommen geboren  sind. 

In  die  letzte  Rubrik  habe  ich  der Ueborsichi  halber  entweder  die  einfache 
oder  die  Mischdiagno.se  eingelragen,  darnach  ergaben  sich  als  erkrankt  an: 


Männer 

Frauen 

Neurasthenie 

. . . . 18 

12 

Angstneurose 

. . . . 22 

22 

Hysterie 

....  3 

1 

Hysterie  und  Angstneurose 

. . . . 5 

3 

Hysterie  und  Neurasthenie 

3 

— 

Neurasthenie  und  Angstneurose  . 

. . . . 2 

3 

Latus  {)3 

41 

44 


Männer 

Frauen 

Transport  53 

41 

Hysterie  und  Angst neurose  und  ' 

Seurasthenie  1 

— 

Tabes 

2 

— 

Hysterie  und  Tabes 

....  1 

— 

Zweifelhaft 

....  1 

— 

Paranoia 

— 

1 

Summa  58 

42 

Gehen  wir  zur  Betrachtung  der  einzelnen  Krankheitsfornien  über, 
so  möchte  ich  zunächst  auf  Fall  42  zurückkommen.  Der  betreffende 
Patient  machte  einen  durchaus  glaubwürdigen  Findruck,  um  so  mehr, 
als  er,  um  sich  dieserhalb  Rates  zu  erholen,  eine  sehr  weite  Reise  ge- 
macht hatte.  Dass  er  keine  Nachkommenschaft  zeugen  konnte,  war  an 
sudi  nichts  aussergcwühnliches  und  läge  vielleicht  der  \ erdacht  nahe, 
seine  Fhefrau  dafür  verantwortlich  zu  machen.  Befremdlich  war  mir 
jedoch  die  Angabe,  dass  seine  Brüder  sich  ganz  in  derselben  Lage  be- 
finden, und  dass  er  gleichsam  als  \ ertreter  der  Familie  käme.  Patient 
war  kein  gerade  herkulisch  gebauter  Mann;  ich  habt4  ihn  sehr  genau 
untersucht,  ohne  mehr  als  gesteigerte  Patellarreflexe  finden  zu  können. 
12  Jahre  lang  hatte  er  in  normaler,  glücklicher  Flu4  sein  Möglichstes, 
ja  vielleicht  mehr  als  sein  Möglichstes  gethan,  um  Jemandem  seinen 
Namen  zu  hinterlassen,  alles  umsonst;  es  hat  ihm  nichts  weiter  genützt, 
als  dass  er  seil  3 Jahren  an  Ziehen  in  Armen  und  Beinen  leidet.  Denk- 
bar wäre  es  ja,  dass  man  bei  länger  andauernder  Beschäftigung  mit 
dem  Patienten  und  seinen  Brüdern  irgend  einen  plausiblen  Grund  ge- 
funden hätte.  So  aber  blieb  mir  der  Fall  nur  ein  biologisches  Rätsel. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  reinen  Neurasthenikern,  so  er- 
geben sich  hier  bei  allen  wirklich  recht  einfache  Verhältnisse.  In  jedem 
Falle  war  die  Erkrankung  durch  längere  Zeit  fortgesetzte 
Masturbation  eingetreten,  in  einigen  Fällen  hatten  sich  die  Patienten 
sogar  masturbieren  lassen;  der  Effekt  war  stets  derselbe.  Im  wesentlichen 
ergab  sich  das  bekannte  Bild  der  Abgeschlagenheil,  Energielosigkeit,  des 
Kopf-  und  Magenschmerzes,  der  Schmerzen  zwischen  den  Schulterblättern 
und  Obstipation.  Dementsprechend  die  körperliche  Untersuchung:  ge- 
steigerte Sehnenreflexe,  Blässe  der  Schleimhäute,  manchmal  leichter  Tremor 
der  Hände.  Gleich  im  Beginn  der  Untersuchungen  fand  ich  bei 


45 


den  Neurasthenikern,  die  über  Magenschmerzen  klagten,  eine 
schmerzhalte  I)  nie  kein  pfi  n d I ichkeit  im  II  vpochondritim.  Ich 
richtete  aul  dieses  Symptom  auch  bei  den  anderen  Patienten  mein  Augen- 
merk und  fand  bei  70  pCt.  der  Neurastheniker,  sei  es,  dass  sie  selbst  über 
Magenschmerzen  klagten  oder  nicht,  ganz  dieselbe  Erscheinung;  da  ich 
es  in  den  Fällen  von  Angstneurose  nicht  fand,  möchte  ich 
nicht  anstehen , dies  geradezu  alsein  pathognostisclies  Zeichen 
I ür  Neurasthenie  und  deren  Ursache  anzusehen. 

Ich  deutete  weiter  oben  darauf  hin,  dass  die  Reproduktion  von 
einer  grösseren  Anzahl  von  Krankengeschichten  Neurastheniseher  eine 
gewisse  Monotonie  mit  sich  bringe.  Bei  genauerem  Zusehen  aber  zeigt 
sich,  dass  sich  oft  so  tiefe  Blicke  auf  soziale  Verhältnisse  eröffnen, 
und  dass  man  oft  beobachten  kann,  wie  manches  Lebensglück  an  solchen 
Krankheiten  hängt,  die  oft  nicht  ernst  genug  aufgefasst  werden.  .So  im 
Falle  32.  Patient  war  ein  sympathischer,  nicht  unintelligenter  junger 
Mensch.  \ oller  Lehenshoffnung  und  Mut  war  er  vor  wenigen  Jahren 
nach  Amerika  ausgewandert.  Drüben  fand  er  bald  eine  gute  Stellung 
und  dachte  vor  der  Hand  nicht  ans  Sparen,  da  er  sein  Geld  und  seine 
freie  Zrit  brauchte,  um  sich  alles  Neue  und  Ungewohnte  gründlich  an- 
zusehen. So  kam  er  eines  Abends  mit  Freunden  in  eine  Bar,  hatte 
vielleicht  auch  schon  dem  Bacchus  zu  viel  geopfert,  und  um  der  Venus 
vulgivaga  auch  ihren  Tribut  zu  entrichten,  liess  er  sich  von  einer  ihrer 
Priesterinnen  umgarnen.  Das  Opfer  war  schwer  bezahlt;  er  konnte 
seinem  Berufe  nicht  mehr  nachgehen,  so  stark  hatte  ihn  eine  Gonorrhoe 
gepackt,  und  zur  Wiederherstellung  seiner  Gesundheit  musste  er  sich  in 
ein  Krankenhaus  aufnehmen  lassen.  Dort  ging  sein  letztes  Geld  drauf; 
eine  Stellung  fand  er  nicht  so  bald  wieder,  und  als  er  sic  fand,  warf 
sie  nicht  mehr  ab,  als  er  zum  Leben  gerade  brauchte.  Aus  Furcht  vor 
erneuter  Ansteckung  zähmte  er  einstweilen  seine  Libido,  dann  als  ihm 
dies  nicht  mehr  gelang,  hatte  er  zwar  den  Mut,  nicht  aber  das  Geld  zu 
Abenteuern  und  da  drüben  nichts,  am  allerwenigsten  aber  die  Liebe  um- 
sonst ist,  verfiel  er  auf  die  Masturbation.  Wie  er  diese  immer  heftiger 
und  heftiger  trieb,  darf  ich  hier  wohl  übergehen.  Kurz,  er  wurde  matt, 
arbeitsunlustig,  verlor  seine  Stelle  und  sein  Selbstvertrauen.  So  führte 
er  drüben  noch  eine  Zeit  lang  ein  elendes  Leben,  und  kehrte  dann  ge- 
brochen zurück,  ohne  die  Masturbation  zu  lassen.  Hier  nun  traute  er 
sich  als  Schiffbrüchiger  keinen  früheren  Freund  aufzusuchen,  von  allein 


4(5 


bot  sich  ihm  natürlich  keine  Stellung  und  .so  geht  er,  das  Opfer  einer 
einzigen  Nacht,  müde  und  energielos  umher.  Diesem  Manne  ist  heute 
nicht  sofort  mit  einer  Stellung  zu  helfen,  diese  würde  er  kaum  ausfüllen 
können;  ihm  hilft  nur  eine  erfolgreiche  Annäherung  an  das  andere  Gc- 
sch locht,  in  diesem  Jungbrunnen  muss  er  sein  Selbstvertrauen  wieder- 
linden, dann  erst  kann  er  in  eine  regelrechte  l’häfigkcit  zurückkehren. 

Wird  dies  der  einzige  so  geartete  Fall  sein?  Ich  wenigstens  glaube 
es  nicht! 

Eine  besondere  Berücksichtigung  verdienen  noch  zwei  Fälle.  Zu- 
nächst der  Fall  87,  der  zu  gleicher  Zeit  der  jüngste  in  Beobachtung  ge- 
tretene Patient  war.  Er  gab  an,  vor  (1  Jahren  von  einem  Wagen  ge- 
stürzt zu  sein  und  davon  eine  Gehirnerschütterung  davongetragen  zu 
haben.  Damals  war  er  also  9 Jahre  alt,  er  klagte  über  neurasthenischc 
Beschwerden,  die  sich  in  den  letzten  4— (1  Wochen  gesteigert  hatten  und 
erzählte,  dass  er  von  der  Zeit  des  Unfalles  an  bis  zum  heutigen  Tage 
sehr  stark  masturbiere.  Bei  der  genauesten  Untersuchung  war  auch  ab- 
solut kein  Anhaltspunkt  für  irgend  eine  organische  Erkrankung  zu  ent- 
decken und  ich  sah  mich  gezwungen,  diesen  Fall  als  eine  Neurasthenie 
aufzufassen.  Merkwürdig  erschien  cs  mir  nur,  dass  der  Knabe  gerade 
seit  dein  Unfall  das  Masturbieren  begonnen  hatte  und  in  welchem  Zu- 
sammenhänge diese  beiden  Umstände  zu  einander  stehen,  ich  habe  da- 
mals die  Frage  nicht  gelöst  und  glaube  auch  jetzt  noch  daran  festhalten 
zu  müssen,  dass  ein  hysterischer  Keim  in  dem  Jungen  steckte,  welcher 
dann  zur  Zeit  der  Erkrankung  und  des  langen  Bettliegens  ihn  zur 
Masturbation  veranlasste. 

Interessant  ist  auch  der  Fall  53.  Der  hier  beschriebene  18jährige 
Kellner,  der  lange  Zeit  masturbierte,  fühlte  sich  im  Gebirge  und  kurze 
Zeit  nach  der  Rückkehr  sehr  wohl,  alle  seine  Beschwerden  sind  mit 
einem  Male  geschwunden  und  man  dürfte  fast  mit  Recht  annehmen, 
dass  die  gute  Luft,  die  veränderte  Lebensweise  und  die  veränderte  Um- 
gebung diesen  heilsamen  Einfluss  auf  sein  nervöses  Leiden  ausgeübt 
hätten.  Schöner  kann  aber  kaum  das  alte  Wort  cessante  causa  tollitur 
effectus  illustriert  werden.  Der  Kellner  hatte  einfach  oben  im  Gebirge, 
weil  er  sich  in  Gegenwart  zweier  Schlafgenossen  genierte,  seine  Mastur- 
bation für  einige  Wochen  an  den  Nagel  gehängt  und,  da  er  sich  da- 
durch natürlich  sehr  wohl  fühlte,  zu  Hause  auch  noch  14  Tage  davon 
gelassen.  In  wie  vielen  hundert  und  aber  hundert  Fällen  treten  nicht 


47 


ganz  ähnliche  Wunderheilungen  durch  Bäder  etc.  ein,  wo  cs  sich  ledig- 
lich um  eine  Regulierung  der  Sexualbezichungen  handelt. 

Ich  gehe  jetzt  weiter  und  komme  zu  den  Kranken,  deren  Haupt- 
symptom die  Angst  war,  und  die  ich  nach  dem  Vorschläge  Freud ’s 
als  Angstneurotiker  bezeichnet  habe.  Diese  spalten  sich  bei  ge- 
nauerer Durchsicht  in  4 Gruppen:  in  solche,  die  vollkommen  absti- 
nent lebten,  solche,  die  den  Coitus  interruptus  übten,  dann  die- 
jenigen, die  eine  häufige  frustranc  Erregung  hatten  und  schliesslich 
solche,  bei  denen  die  Angst  infolge  von  Impotenz  auftrat. 

In  die  erste  Abteilung  der  Abstinenten  gehören  von  männlichen 
Patienten : 

No.  4,  10,  25,  65,  78,  93, 
von  weiblichen  Patienten: 

No.  28,  50,  52,  73,  74,  94. 

Bei  keinem  der  Patienten  aus  dieser  Reihe  hat  die  Krankheit  vor 
der  Zeit  bestanden,  ehe  der  angegebene  schädliche  sexuelle  Einfluss  vor- 
handen war.  Der  Zeitraum,  in  welchem  die  Patienten  abstinent  gelebt 
haben  und  sich  wohl  befanden,  bis  ihre  ersten  Krankheitserscheinungen 
auftraten,  ist  ein  recht  verschiedener.  Im  Falle  65  6 Wochen,  im 
Falle  78  bis  zu  2 Jahren.  Gründe  der  Abstinenz  waren  in  2 dieser 
Fälle  Verlobung,  ohne  dass  jedoch  irgend  welche  anderen,  namhaften 
sexuellen  Erregungen  während  der  Verlobung  stattgefunden  hätten. 

Fall  78  ist  insofern  interessant,  als  der  Kranke  abstinent  blieb  aus 
Furcht,  sein  Rheumatismus  würde  wiederkehren!  Es  ist  überhaupt  sehr 
lehrreich,  zu  beobachten,  welch’  obstruse  Ideen  sich  manche  Leute  in 
Bezug  auf  Schädlichkeiten  und  Nützlichkeiten  des  Sexuallebens  machen. 

So  dürfte  auch  Fall  93  sich  sehr  oft  und  gerade  unter  den  ge- 
bildeten Ständen  wiederholen.  Es  war  dies  ein  recht  intelligenter  Be- 
amter. welcher  die  Ansicht  hatte,  dass  vom  5.  Monat  der  Gravidität  an 
seiner  Frau  und  dem  zu  erwartenden  Kinde  der  Verkehr  schaden  könne. 
Es  war  infolgedessen  ganz  genau  zu  erkennen,  Mrie  vor  und  nach  der 
Geburt  eines  jeden  Kindes  bei  dem  Vater  infolge  der  periodischen  Ab- 
stinenz periodische  Angstanfälle  auftraten.  Im  März  1893  bekam  seine 
Frau  das  1.  Kind,  im  Winter  desselben  Jahres  hatten  seine  Angstanfälle 
bereits  begonnen;  im  September  1895  das  2.  Kind,  im  Herbst  hatte  er 
wieder  seine  Angstanfälle,  und  schliesslich  im  Juli  1897  3.  Kind  mit 
Angstanfällen  beim  Vater  den  ganzen  Sommer  hindurch.  Es  ist  hieraus 


48 


ersichtlich,  dass,  da  der  betreffende  Patient  seine  Frau  4 Monate  vor 
Geburt  des  Kindes  schonte,  er  ungefähr  1 Monat  vor  der  Geburt  des 
Kindes  erkrankte  und  erkrankt  blieb,  bis  er  nach  der  Genesung  seiner 
Frau  wieder  mit  ihr  zusammen  sein  konnte.  Er  motivierte  sein  merk- 
würdiges Verhalten  durch  sehr  grosse  Liebe  zu  seiner  Frau,  der  er  auf 
keinen  Fall  schaden  wollte,  trotzdem  er  selbst  glaubte,  dass  diese  lange 
Abstinenz  die  Ursache  seiner  Angstanfälle  wäre. 

Ein  ähnlicher  Fall  begegnet  uns  in  No.  94.  Hier  war  die  Liebe 
und  Sorgfalt  auf  Seilen  der  Frau,  die  mir  erzählte,  dass  ihr  Mann  öfters 
heftig  und  launisch  werden  könne  und  sie  jede  mögliche  Erregung  von 
ihm  fern  halten  möchte,  da  er  selbst,  der  wie  angeführt  an  Diabetes 
leidet,  aus  Furcht,  der  Sexualverkehr  könne  ihm  schaden,  nicht  mit 
seiner  Frau  verkehrt  und  sie  ihn  deswegen  auch  nicht  dazu  dränge. 
Es  ist  dies  sicher  eine  falsche  Ansicht,  dass  eine  organische  Erkrankung 
durch  normalen  Verkehr  beeinträchtigt  würde,  aber  selten  dürfte  diese 
Anschauung  nicht  sein. 

Auch  im  Fall  10  hat  der  Mann  wegen  Krankheit  seiner  Frau 
ein  Jahr  lang  abstinent  gelebt  und  hat  seit  8 Monaten  Angsterschei- 


nungen. 

Der  Fall  04  hat  uns  zu  den  abstinenten  Frauen  übergeführt  und  in 
dieser  Reihe  finden  wir  2 Fälle  vor,  wo  die  Abstinenz  nach  Entbin- 
dungen begonnen  hat  aus  Furcht  vor  wiederholter  Conception ; cs  waren 
beide  Male  aussereheliche  Geburten. 

Hei  3 Fällen  (50,  52,  73)  konnten  die  betreffenden  Frauen  von 

ihren  Männern,  die  nicht  mehr  leistungsfähig  waren,  keine  Befriedigung 
erlangen,  der  Verkehr  war  trotzdem  ein  normaler. 

Frustrane  Erregungen  bei  Männern  findet  sich  Fall  99  bei  einem 
Bräutigam,  der  sich  jedes  Mal  bei  dem  Zusammensein  mit  seiner  Braut, 
wie  er  selbst  zugiebt,  seit  21/2  Jahren  sehr  aufgeregt  hat,  ohne  in  der 
ganzen  Zeit  eine  natürliche  Ableitung  für  seine  Libido  zu  finden. 

2 fälle,  No.  11  und  70,  beziehen  sich  auf  Mädchen,  die  durch 

ihren  „Bräutigam“  sexuell  erregt  worden  sind.  In  Fall  11  besteht  die 

Erkrankung  schon  seit  6 Jahren;  die  Erregung  schon  seit  einigen  Jahren 

mehr.  Fall  70  hatte  erst  5 Jahre  ohne  Befriedigung  Coitus  interruptus 
geübt,  leider  passierte  ihr  einmal  das  1 nglück  gravid  zu  werden,  seit- 
dem hat  sie  (seit  3/4  Jahren)  sich  nur  von  ihrem  Bräutigam  aufregen 
lassen,  aber  keinen  andern  Verkehr  gestattet.  bis  sind  bei  ihr  die 


49 


Symptome  der  Angst  nach  dem  Coitus  interruptus  in  die  analogen  Sym- 
ptome nach  der  frustranen  Erregung  unvermittelt  übergegangen. 

Das  reichste  Feld  für  die  Angstneurose  kommt  nun  mit  der  Aetio- 
logie  des  gehemmten  Verkehrs. 

Männer:  No.  14,  18,  20,  24,  46,  57,  72,  82,  86,  88,  97. 

Diese  Fälle  können  geteilt  werden  in  solche,  bei  denen  mitten  in 
der  Erregung  der  Sexualakt  unterbrochen  worden  ist  und  in  solche,  in 
denen  der  Sexualakt  aus  Rücksicht  auf  die  Frau  möglichst  hinausge- 
schoben worden  ist.  Die  Erkrankung  hat  auch  hier  jedes  Mal  erst 
einige  Zeit  nach  Einsetzen  der  Schädlichkeit  begonnen.  Es  ist  vielleicht 
gut,  sofort  hier  die  Frauen  derselben  Reihe  zum  Vergleich  heranzu- 
ziehen : 

No.  21,  31,  33,  40,  41,  48,  49,  55,  59,  62,  67,  89,  95. 

Bei  den  Frauen  war  es  stets  mangelnde  Befriedigung  beim  Verkehr, 
die  einige  Zeit  nach  Beginn  des  Coitus  interruptus  eingesetzt  hat.  Bei 
beiden  Geschlechtern  sind  auch  die  Zeiten,  in  denen  sic  noch  nach  dem 
Beginn  des  schädlichen  Verkehrs  gesund  geblieben  sind,  ganz  verschie- 
den. Jedoch  erweckt  es  in  mir  den  Anschein,  als  ob  die  Frau  längere 
Zeit  diese  Art  des  Verkehrs  ertrüge  als  der  Mann.  Ob  dies  auf  der 
allgemeinen  geringeren  Sensibilität  der  Frau  beruht,  lasse  ich  dahin- 
gestellt. 

Unter  meinen  Patienten  befanden  sich  2 Ehepaare,  No.  20,  21  und 
88,  89.  Das  erste  Paar  (ein  Postassistent  mit  seiner  Frau)  waren  zwei 
blutjunge  Leute,  die  vor  3 1/2  Jahren  sich  aus  Liebe  geheiratet  hatten, 
ohne  zu  wissen,  wovon  sie  eigentlich  leben  wollten.  Sein  Gehalt  war, 
wie  denkbar,  kein  sehr  grosses  und  deswegen  haben  sie  vom  1.  Tage 
ihrer  Ehe  an  eine  Conception  zu  vermeiden  gesucht.  Bei  ihm  zeigte 
sich  die  Folge  bereits  nach  1 Jahre,  bei  ihr  nach  \lj2  Jahren.  Bei  dem 
Examen,  bei  welchem  sie  fast  ganz  von  allein  ihren  anormalen  Verkehr 
erzählten,  beschuldigte  natürlich  einer  den  andern  der  Anstifter  dieses 
Uebels  zu  sein  und  trotzdem  sie  glücklich  waren,  dass  keine  ernstere 
als  diese  Erkrankung  zu  Grunde  lag,  schienen  sic  doch  ratlos  zu  sein, 
wie  sie  sich  in  Zukunft  gegen  einen  unwillkommenen  Kindersegen 
schützen  sollten. 

Das  andere  Ehepaar,  No.  88,  89,  verdient  insofern  Interesse,  als 
trotz  langjährig  ausgeübten  Coitus  interruptus  immer  unbeabsichtigte  Ge- 
burten eingetreten  waren.  Der  Mann  war  Agent  und  viel  von  Hause 

Uattel,  Sexuelle  Ursachen  der  Neurasthenie.  4 


50 


wog.  und  während  die  Krau  zu  Hause  sich  während  der  Abwesenheit 
des  Mannes,  wo  sie  in  Ruhe  gelassen  wurde,  sehr  wohl  fühlte,  verkehrte 
er  merkwürdiger  Meise  auf  dieselbe  Art  ausserhalb  mit  anderen  krauen, 
selbst  wenn  er  nach  der  Profession  der  Betreffenden  sich  um  eine  ( on- 
ception  gar  nicht  zu  kümmern  brauchte. 

Zwei  Fälle,  47  und  71,  waren  Klagen  über  Impotenz  und  Angst- 
zuständc  bei  Männern,  welche  bedeutend  ältere  Frauen  hatten  und  an 
denen  sie  zu  keiner  Befriedigung  kamen.  Wenn  sic  mal  Exccssc  be- 
gingen, waren  sie  mit  ihrer  Potenz  ganz  zufrieden. 

Ein  anderer  Fall  92  betraf  einen  Sicherheitswachmann,  der  auch 
den  Coitus  protrahierte,  um  seine  Frau  zufrieden  zu  stellen.  Ob  bei 
ihm  nicht  infolge  früherer  sexueller  Jugcnderinncrungen  ein  Kcimchen 
Hysterie  verborgen  ist,  konnte  ich  im  Ambulatorium  nicht  feststellen. 

Unter  meiner  Zahl  von  Kranken  sind  recht  wenig  Hysterische 
anzutreffen,  jedermann  weiss,  dass  gerade  bei  ambulatorischem  Material 
Hysterie  eine  grosse  Rolle  spielt.  Ich  erwähnte  aber  eingangs,  dass  ich 
Fälle  von  grosser  Hysterie  bei  meiner  Untersuchung  ausgeschlossen  habe, 
1.  um  mir  mein  Material  an  Neurasthenikern  und  Angstneurotikern  nicht 
zu  verkleinern,  und  2.  gehört  auch,  um  die  sexuellen  Wurzeln  der  Hysterie 
aufzudecken,  sehr  viel  Zeit  dazu  und  kaum  lässt  sich  dies  in  einem 
Ambulatorium  durchführen.  Demnach  sind  die  Fälle,  die  auf  den  ersten 
Blick  als  Hysterie  erschienen,  gar  nicht  aufgenommen.  Wenn  sich  aber 
trotzdem  in  meiner  Reihe  3 männliche  Hysterien  und  eine  weibliche  vor- 
finden, so  erklärt  sich  dies  daraus,  dass  Kranke,  die  man  zuerst  für 
Neurastheniker  hält,  sich  schliesslich  doch  als  Hysterische  entpuppen; 
dann  natürlich  habe  ich  sie  nicht  aus  meiner  Liste  gestrichen,  sondern, 
weil  irgend  einem  anderen  Nachuntersucher  dasselbe  passieren  kann  wie 
mir,  habe  ich  sie  mit  unter  die  anderen  Kranken  genommen.  Der 
Hauptunterschied  zwischen  Neurasthenie  und  Angstneurose  einerseits 
und  Hysterie  andererseits  besteht  nach  Freud  darin,  dass  der  letzteren 
Ursachen  in  der  frühesten  Kindheit  zu  suchen  sind,  die  der  beiden 
ersteren  dagegen  nach  der  Pubertät.  Da  ich  nach  diesen  Gesichts- 

punkten, zu  denen  auch  ich  durch  Untersuchungen  auf  diesem  Gebiete 
gekommen,  die  vorerwähnten  Kranken  unterschieden  habe,  halte  ich  es 
für  meine  Pflicht,  dem  Leser  die  allerwichtigsten  Sätze  aus  den  letzten 
Freud’schen  Publikationen  über  die  Aetiologie  der  hysterischen  Svm- 
ptome  hier  kurz  wiederzugeben. 


51 


Als  Vorläufer  der  Sexualtheorie  über  die  Hysterie  sind  die  von 
Breuer  und  Freud1)  gemeinsam  veröffentlichten  Studien  über  Hysterie 
/n  betrachten.  Daselbst  finden  wir  (S.  3),  dass  zwischen  der  gewöhn- 
lichen Hysterie  und  der  traumatischen  Neurose  insofern  eine  Analogie 
besteht,  dass  bei  beiden  ein  psychisches  Trauma  die  Krankheitsursache 
bildet,  und  (S.  4)  dass  die  hysterischen  Symptome  dann  gänzlich  ver- 
schwinden, wenn  es  gelingt  die  Erinnerung  an  den  veranlassenden  Vor- 
gang wachzurufen  und  wenn  die  Erinnerungen  an  diese  Traumen  von 
dem  Kranken  abreagiert  worden  sind  (S.  7).  Auf  die  Methode,  welche 
die  Verfasser  zur  „schichtweisen  Abtragung“  der  hysterischen  Symptome 
anwandten,  gehe  ich  hier  nicht  ein,  sie  möge  im  Original  nachgelesen 
werden.  Wichtiger  ist  der  Umstand,  dass  Freud  im  weiteren  Verlaufe 
der  Zeit  durch  die  Psychoanalysen  Hysterischer  zu  der  Erkenntnis  kam, 
dass  die  psychischen  Traumen  stets  ganz  bestimmter  Art  sind. 

„Wenn2)  die  aufgefundene  Erinnerung  unseren  Erwartungen  nicht 
entspricht,  vielleicht  ist  derselbe  AVeg  ein  Stück  weiter  zu  verfolgen, 
vielleicht  verbirgt  sich  hinter  der  ersten  traumatischen  Scene  die  Er- 
innerung an  eine  zweite,  die  unseren  Ansprüchen  besser  genügt,  und 
deren  Reproduktion  mehr  therapeutische  Wirkung  entfaltet,  so  dass  die 
erstgefundene  Scene  nur  die  Bedeutung  eines  Bindegliedes  in  der  Asso- 
ciationsverkettung hat?“  und  so  zeigte  es  sich,  „dass  kein  hysterisches 
Symptom  aus  einem  realen  Erlebnis  allein  hervorgehen  kann,  sondern 
dass  alle  Male  die  associativ  geweckte  Erinnerung  an  frühere  Erlebnisse 
zur  Verursachung  des  Symptom  es  mitwirkt“,  und  so  kam  er  endlich  bei 
allen  Hysterien  zu  einem  gemeinsamen  Ausgangspunkt,  welcher  stets 
ein  sexuelles  Erlebnis  in  frühester  Kindheit  war.  Er  hatte  da- 
mit gleichzeitig  einen  Schritt  weiter  in  der  Erkenntnis  der  Entstehung 
hysterischer  Symptome  gethan.  Hören  wir  ihn  selbst:  „Ich3)  darf  Sie 

aber  auch  daran  mahnen,  dass  ich  selbst  vor  wenigen  Jahren  auf  ein 
bisher  wenig  gewürdigtes  Moment  hingewiesen  habe,  für  welches  ich  die 
Hauptrolle  in  der  Hervorrufung  der  Hysterie  nach  der  Pubertät  in  An- 
spruch nehme.  Ich  habe  damals  ausgeführt,  dass  sich  der  Ausbruch 
der  Hysterie  fast  regelmässig  auf  einen  psychischen  Konflikt  zu- 

1)  Breuer  und  Freud,  Studien  über  Hysterie.  Wien  1895. 

2)  Freud,  Zur  Aetiologie  der  Hysterie.  Wiener  Klinische  Rundschau.  1896. 
No.  22—26. 

3)  1.  c. 


4* 


rii<-k t «ihren  lässt,  indem  eine  unverträgliche  Vorstellung  die  Abwehr 
des  Ich  rege  mache  und  zur  Verdrängung  aullordere.  ( nter  welchen 
Verhältnissen  dieses  Abwehrbcstreben  den  pathologischen  Effekt  hat,  die 
dem  Ich  peinliche  Erinnerung  wirklich  ins  Unbewusste  zu  drängen  und 

an  ihrer  Statt  ein  hysterisches  Symptom  zu  schaffen,  das  konnte  ich 

damals  nicht  angeben.  Ich  ergänze  es  heute:  Ibe  Abwehr  erreicht  dann 
ihre  Absicht,  die  unverträgliche  Vorstellung  aus  dem  Bewusstsein  zu 

drängen,  wenn  bei  der  betreffenden  bis  dahin  gesunden  Person  infantile 

Sexualscencn  als  unbewusste  Erinnerungen  vorhanden  sind,  und  wenn 
die  zu  verdrängende  Vorstellung  in  logischem  oder  associativem  Zu- 
sammenhang mit  einem  solchen  infantilen  Erlebnis  gebracht  werden 
kann.“ 

Ich  habe  hier  nur  das  allernotwendigste  der  Freud’schen  Hystcrie- 
lehre  wiedergegeben,  — um  ein  Bild  zu  gebrauchen,  nur  den  Rumpf; 
wie  sich  die  Glieder  daran  ansetzen,  durch  welche  Gelenke  sie  verbun- 
den sind,  lasse  ich  wohlwissend  als  über  den  Rahmen  dieser  Arbeit 
hinausgehend,  weg  — zumal  es  nur  den  Autor  wiederholen  hiesse,  wollte 
ich  seine  geistvollen  Ausführungen  hier  niederschreiben.  Das  wenige 
was  ich  gab,  rührt  nur  aus  dem  Bestreben  her,  meinen  Standpunkt  zu 
kennzeichnen,  von  welchem  aus  ich  aus  meinen  Kranken  die  Hysteri- 
schen abgespalten  habe,  und  um  einen  Begriff  davon  zu  geben,  dass 
man  früheste  Jugenderinnerungen  nicht  mit  einer  Handbewegung  auf- 
dcckt,  sondern  dass  man  sich  redlich  mühen  und  den  Patienten  in  seiner 
Denkarbeit  unterstützen  muss,  soll  es  gelingen  durch  eine  Analyse  bis 
weit  in  die  Kindheit  hinunterzublicken  und  die  schädlichen,  dort  schlum- 
mernden Keime  zu  entdecken.  Als  Beispiel  dieses  schwierigen  Ver- 
fahrens will  ich  hier  eine  Hysterie-Analyse  mit  .-teilen,  möge  der  Leser 
daraus  ersehen,  dass  ein  poliklinisches  Material  kaum  zu  solchen  V er- 
suchen zu  gebrauchen  ist. 

Fräulein  Ella  E.,  28  Jahre  alt,  aus  Schlesien,  war  mir  von 
einem  Kollegen  mit  der  Diagnose  Neurasthenie  zugeschickt  worden.  Sic 
klagte  über  zeitweilige  sehr  heftige  Kopfschmerzen,  die  vom  Scheitel 
beginnend  nach  dom  Hinterkopfe  zu  ausstrahlten,  ausserdem  über  einen 
Druck  über  den  Augen,  den  sie  als  von  der  schlecht  sitzenden  Brille 
herrührend  betrachtete  (sie  war  myop  und  trug  seit  mehreren  Jahren 
eine  Brille).  Am  allerunangenehmsten  war  ihr  ein  Schmerz  im  Nacken, 
„der  gerade  so  ist,  als  ob  Jemand  meinen  Hals  von  hinten  her 


um- 


53 


klammert“.  Dazu  gesellt  sich  oft  noch  ein  Schmerz  in  der  linken 
Ihicke,  der  gerade  wie  der  Druck  einer  Hand  sei.  Manchmal  hatte  sie 
auch  noch  einen  Schmerz  im  linken  Unterarm,  den  sie  aber  nicht  näher 
zu  bezeichnen  vermochte.  Ihre  Periode  dauert  sehr  lange,  mit  grossem 
Blutverlust. 

Ich  fragte  sie  nach  ihren  Familien  Verhältnissen  und  erfuhr,  dass  ihr 
Vater  starb  als  sie  12  Jahre  alt  war.  Sie  habe  noch  einen  10  Jahre 
älteren  und  einen  4 Jahre  jüngeren  Bruder,  letzterer  ist  verheiratet. 

In  der  weiteren  Unterhaltung  am  ersten  Tage  erfahre  ich  von  ihr 
noch,  dass  sie  glaube,  die  Kopfschmerzen  beständen  seit  2 Jahren,  doch 
könne  sie  sich  nicht  auf  den  Anfang  besinnen.  Ihre  Jugend,  wie  über- 
haupt ihre  Vergangenheit  seien  nicht  so  interessant  gewesen,  um  daran 
zu  denken.  Sie  habe  überhaupt  absolut  keine  Erinnerungen  aus  der 
Jugend.  Sie  habe  nie.  aber  auch  gar  nie,  für  irgend  Jemanden  eine 
erotische  Empfindung  oder  überhaupt  etwas  mehr  als  Interesse  gehabt; 
was  Liebe  heisse,  wisse  sie  nur  von  anderen  Leuten,  nicht  aber  aus 
eigener  Erfahrung.  Sie  sei  oft  durch  heftige  Träume  geplagt;  darauf  er- 
klärt sie  mir,  alles  gesagt  zu  haben,  was  sie  über  sich  wisse  und  mit 
dem  besten  Willen  würde  ich  nichts  mehr  aus  ihr  herausbringen.  Plötz- 
lich fällt  ihr  ein,  dass  sic  des  Nachts  oft  mit  Angstgefühl  erwache  und 
die  Empfindung  habe,  als  hätte  sie  Jemand  an  den  Beinen  gezogen. 

Ich  entlasse  sie  für  diesen  Tag  und  trage  ihr  auf,  mir  am  nächsten 
Tage  alles  getreulich  mitzuteilen,  was  ihr  bis  dahin  eingefallen  sei. 

Zweiter  Tag. 

Zunächst  teilt  mir  Fräulein  E.  mit,  dass  cs  ihr  herzlich  schlecht 
ginge,  dann  dass  sie  heute  Nacht  wieder  einen  recht  unangenehmen 
Traum  gehabt  habe,  den  sie  folgendermaassen  erzählt:  „Erst  sah  ich  wie 
ich  einen  kleinen  Knaben,  den  Sohn  eines  Rechtsanwaltes  in  X.  unter- 
richtete, dann  sah  ich  ein  kleines  Mädchen  in  einem  Sarge.  Es  war  dies 
ein  Kind,  mit  dem  ich  selbst  als  Kind  nur  sehr  selten  gespielt  habe,  ich 
habe  seit  meiner  Jugend  nie  mehr  daran  gedacht.  Im  Traume  sah  ich 
es  vollkommen  ähnlich  mit  einem  roten  Muttermal  auf  der  linken  Backe) 
das  es  auch  in  Wirklichkeit  gehabt  hat. 

Dieser  Traum  hat  mich  auch  darauf  gebracht,  dass  ich  gestern 
Ihnen  etwas  mitzuteilen  vergessen  habe,  cs  ist  mir  aber  wirklich  nicht 
eingefallen.  Nämlich,  als  Kind  bin  ich  schon  sehr  ängstlich  gewesen 


um]  habe  deshalb  Naclils  bei  meiner  Mutter  im  Bett  geschlafen.  Nur 
wenn  es  nicht  anging,  d.  h.  wenn  Mutter  „unwohl“  war  und  zweimal 
als  sie  im  Wochenbett  lag,  dann  schlief  ich  mit  meinem  Bruder  in 
einem  Bett.“ 

„„Mit  dem  Bruder,  der  10  Jahre  älter  war?““ 

„Nein,  der  war  nur  3 Jahre  älter.“ 

„„Von  dem  haben  Sh*  mir  gestern  aber  nichts  erzählt!““ 

„Nein,  der  ist  ja  auch  gestorben,  gerade  wie  die  jüngere  Schwester. 
Den  Bruder  hatte  ich  am  liebsten  von  allen  Geschwistern.  Ich  hatte 
das  gestern  ganz  vergessen,  und  Sie  fragten  ja  nur  wie  viele  Geschwister 
„ich  habe“,  nicht  wie  viele  „ich  gehabt  habe“.  Ich  war  stets  sehr  froh, 
wenn  ich  zu  Mutter  nicht  in’s  Bett  konnte,  und  mit  dem  Bruder  zu- 
sammen schlief.“ 

Im  weiteren  Verlaufe  dieser  Sitzung  bestätigte  sich  mein  Verdacht, 
dass  etwas  in  der  Jugend  mit  ihr  vorgenommen  worden  sei,  wobei  man 
sie,  um  sie  zu  missbrauchen,  auf  die  Seite  gelegt  habe  und  mit  der 
Hand  die  linke  Seite  des  Kopfes  niedergedrückt  habe.  Schon  als  junges 
Mädchen  habe  sie  geglaubt,  dass  die  Spielereien  mit  dem  Bruder  un- 
recht seien,  sie  habe  sich  schuldig  gefühlt,  später  oft  gefürchtet  ver- 
rückt werden  zu  müssen  und  sich  deshalb  den  Tod  gewünscht. 


Dritter  Tag. 

Sie  fühlt  sich  heute  \iel  wohlcr,  Schmerzen  hat  sie  seit  gestern 
nicht  mehr  gehabt  und  ihre  Stimmung  ist  seit  Beginn  der  Behandlung 
heute  am  besten.  Erst  erzählt  sic,  was  sie  seit  gestern  getrieben,  wo 
sie  den  Abend  verbracht  hat  und  sagt:  „aber  eingefallen  ist  mir  auch 
gar  nichts  aus  früherer  Zeit,  ich  habe  Ihnen  ja  nun  auch  alles  mitge- 
tcilf.“  Ihre  llilarität  macht  mich  misstrauisch,  und  ich  sage  ihr  auf 
den  Kopf  zu,  dass  sie  mir  etwas  vorenthalte,  sie  brauche  sich  nicht  zu 
genieren,  sondern  solle  nur  ruhig  erzählen.  So  kommt  denn  nach  einigen 
Entschuldigungen  und  Zögern,  dass  das  sicher  ganz  nebensächlich  sei, 
folgendes  heraus:  „Nun  ja,  gestern  Abend  fiel  mir  ein,  dass  ich  vor 
einigen  Jahren,  als  ich  mich  zu  Besuch  in  München  aufhielt,  unmöglich 
anders  cinschlafen  konnte,  als  in  der  Stellung  der  Tizian’schen  Venus 
in  der  Dresdener  Galerie.  Und  dann  muss  ich  Ihnen  noch  sagen,  dass 
ich  vor  3 Jahren  für  einen  Offizier  sehr  geschwärmt  habe;  er  hielt  sich 
bei  meinen  Verwandten  zu  Besuch  auf,  wir  waren  oft  allein  beieinander 


oo 


aber  es  ist  sicherlich  nichts  passiert;  er  ging  dann  fort,  drückte  mir  die 
Hand  und  ich  habe  nichts  mehr  von  ihm  gehört. 

Am  vierten  Tage 

ist  absolut  nichts  aus  ihr  hcrauszubringen,  sie  antwortet  nur  „ja“  und 
„nein“,  erzählt,  dass  gestern  Abend  die  Schmerzen  im  Nacken  wicdcr- 
gckomnicn  seien,  bleibt  aber  hartnäckig  dabei,  trotz  meines  Vorhaltens, 
dass  ihr  seit  gestern  gar  nichts  mehr  eingefallen  sei.  Ich  dringe  auch 
nicht  weiter  in  sie,  lasse  sic  gehen,  und  versichere  ihr,  dass  ihre 
Schmerzen  erst  dann  Weggehen  werden,  wenn  sic  mir  das  erzähle,  was 
sie  mir  heute  verschweige. 

Fünfter  Tag. 

Ich  habe  mich  in  meiner  Annahme  nicht  getäuscht.  Zunächst  be- 
richtet sie  einen  Traum,  der  sehr  hässlich  gewesen  sei.  Erst  habe  sie 
zwei  kleine  Mädchen  geohrfeigt,  dann  hätten  diese  sich  in  ihren  jüngeren 
mul  älteren  Bruder  umgcwandelt,  letzterer  sei  aber  dann  nicht  mehr  ihr 
Bruder,  sondern  irgend  Jemand  anderes  gewesen.  Darauf  schweigt  sic; 
ich  lege  ihr,  um  abzuwarten  was  nun  kommt,  gar  keine  Frage  vor. 
Plötzlich  platzt  sie  heraus:  „Ich  habe  Ihnen  noch  etwas  zu  sagen,  das 
mich  seit  vorgestern  bedrückt,  und  da  sic  mir  gestern  sagten,  dass 
meine  Schmerzen  erst  aufhören  würden,  wenn  ich  Ihnen  alles  rückhalts- 
los erzähle,  muss  es  schliossich  doch  heraus,  ich  kann  ja  auch  nichts 
dafür,  denn  was  ich  als  kleines  Kind  gethan,  dafür  kann  man  mich 
doch  heule  nicht  mehr  verantwortlich  machen.  Noch  viel  früher  als 
damals,  wo  ich  so  gern  zu  meinem  Bruder  in’s  Bett  kroch,  ich  habe 
Sic  nämlich  mit  der  Zeitangabe  getäuscht,  denn  da  war  ich  schon 
12  Jahre,  also  noch  früher,  ehe  ich  überhaupt  zur  Schule  ging,  also  4 
oder  5 Jahre  alt  war,  bin  ich  oft  einem  Herren,  auf  den  ich  mich  aber 
jetzt  nicht  mehr  besinne,  bis  an’s  Ende  des  Dorfes,  wo  wir  wohnten, 
nachgclaufen,  und  habe  ihn  veranlasst,  unsittliche  Dinge  mit  mir  vorzu- 
nehmen. Ich  habe  das  aber  ganz  aus  eigenem  Antrieb  gethan,  weil  ich 
sehr  angenehme  Gefühle  dadurch  hatte.  Natürlich  habe  ich  mich  später 
geschämt,  und  die  Sache  auch  vergessen,  aber  vorgestern  Abend,  als 
ich  mich  nach  dem  Spazierengehen  ermüdet  auf  eine  Bank  setzte,  fiel 
mir  das  alles  wieder  ein.  Jetzt  ist  aber  alles  heraus,  das  hat  mich 
noch  gequält  und  ich  habe  Ihnen  nun  gar  nichts  mehr  zu  sagen.“  Beim 


Fortgehen  verlange  ich  von  ihr  bis  /uni  nächsten  Male  zu  erfahren,  wann 
der  Kopfschmerz  zum  ersten  Male  aufgetreten  sei. 

Sechster  Tag. 

Heute  ist  wieder  gar  nichts  mit  ihr  anzufangen.  I rotzdem  ich  es 
lur  überflüssig  halte,  ihr  zu  sagen,  dass  ich  glaube  sie  verheimliche  mir 
wieder  etwas,  ist  sic  beim  Weggehen  sehr  betreten  und  bettelt  so  lange 
bis  ich  ihr  erlaube,  falls  die  Kopfschmerzen  wiederkehren  sollten,  ein 
Phenacetinpulver  zu  nehmen. 

Siebenter  Tag. 

Heute  musste  die  Sitzung  aus  fallen.  Fräulein  F.  teilt  mir  mit,  dass 
sie  nicht  kommen  könne. 


Achter  Tag. 

Frl.  E.  ist  wieder  sehr  gut  gestimmt  und  fängt  gleich  dort  an,  wo 
wir  vor  drei  Tagen  stehen  geblieben  sind.  „Ich  habe  Ihnen  noch  nicht 
erzählt,  dass  ich  vor  2 Jahren  mich  mit  einem  jungen  Mann  verloben 
sollte,  der  mir  aber  ganz  gleichgültig  war.  Kurz  darauf  bekam  ich  die 
Kopfschmerzen,  aber  durch  eine  andere  Veranlassung,  wie  ich  glaube. 
Auf  das  letztere  bin  ich  durch  einen  sehr  angenehmen  Traum  gekommen. 
Ich  erzählte  Ihnen  bereits  von  dem  Offizier,  für  den  ich  mich  inter- 
essierte, nun,  eines  Abends,  als  ich  mit  einer  Handarbeit  beschäftigt 

war,  im  Nebenzimmer  wurde  von  einigen  Herren  Karten  gespielt,  kam 

der  Offizier  herein  und  sagte,  da  ich  vorhin  trotz  der  Aufforderung  nicht 

gesungen  oder  gespielt  hätte,  sollte  ich  ihm  jetzt  wenigstens  ein  anderes 

Privatvergnügen  machen  — er  machte  mir  einen  unsittlichen  Antrag. 
Trotzdem  ich  ihn  sehr  gern  hatte,  und  dies  mich  sehr  aufregte,  habe  ich 
ihn  natürlich  abgewiesen.  Erfolgt  ist  dann  weiter  nichts.  An  dem  Abend 
hatte  ich  bei  dem  Lampenlicht  meine  Augen  sehr  angestrengt,  so  dass 
ich  Augenschmerzen  hatte.  Von  da  datieren  die  Kopfschmerzen.“ 


Neunter  Tag. 


sich 

der 


Sie  hat  trotz  der  Erlaubnis  kein  Phenacetin  genommen.  Befindet 
ausgezeichnet.  Das  Fräulein  kam  nach  mehreren  Tagen  zu  mir, 
gute  Zustand  hielt  an.  Leider  musste  sie  dann  abreisen.  Ich  sage 
ir,  weil  ich  den  allerersten  Keim  der  Hysterie  nicht  herauszube- 


kommen  Zeit  hatte.  Dass  sie  mit  4 Jahren  sich  einem  Herren  gleich 
wie  eine  alte  routinierte  Demimondaine  aufdrängte,  konnte  ja  doch  nur 
der  Wunsch  nach  Wiederholung  eines  früher  mit  ihr  vorgenommenen 
Aktes  sein.  Von  allein  wird  ein  Kind  niemals  so  etwas  thun.  Nach 
einiger  Zeit  hörte  ich  wieder  von  Fräulein  E.,  es  ginge  ihr  trotz  der 
rudimentären  Analyse  recht  gut. 


Nach  diesen  Ausführungen  will  ich  nochmals  hervorheben,  was  mich 
veranlasst  hat,  die  Fälle  IG,  22,  61,  80  als  Hysterieon  zu  bezeichnen. 

Die  Dame  (Fall  16)  würde  jedem  Unbeteiligten  nach  wenigen 
Worten  als  Hysterica  erscheinen,  doch  war  für  mich  maassgebend,  dass 
sie  selbst  angab,  schon  in  frühester  Jugendzeit  von  Schul  freund  innen  auf 
das  Sexualleben  aufmerksam  gemacht  worden  zu  sein,  wohin  dies  zu 
verstehen  ist,  wollte  ich  die  Patientin  in  der  kurzen  Zeit  nicht  fragen, 
doch  glaube  ich,  dass  es  nicht  allein  bei  Aufklärungen  geblieben  ist. 
Dann  trat  vom  17.  bis  zum  23.  Jahr  die  merkwürdige  Zeit  der  „Ver- 
drängung“ bei  ihr  auf,  indem  sie  mit  typischen  Worten  äusserte,  dass 
sie  damals  eine  „heilige  Liebe“  gehabt  habe  zu  einem  Manne,  der  sich 
herablassen  wollte  sie  zu  heiraten.  Natürlich  folgte  hierauf  nach  einigen 
Jahren  die  Ernüchterung,  und  ein  markantes  hysterisches  Symptom  bildet 
in  dieser  Krankengeschichte,  die  noch  heutigen  Tages  anhaltende  auch 
äusserlich  dokumentierte  Trauer  um  den  seit  16  Jahren  verstorbenen 
Vater.  Sie  hat  sehr  spät  geheiratet  und  sogar  Kinder  geboren.  Merk- 
würdig ist  auch  hier,  dass  die  mangelnde  Befriedigung,  die  sie  in  ihrem 
Eheleben  auch  jetzt  noch  durchmacht,  keine  angstneurotischen  Symptome 
bei  ihr  machen,  da  die  aus  der  Jugend  stammenden  hysterischen  Keime 
überwiegen. 

Wie  intensiv  das  sexuelle  Trauma  in  der  Jugend  bei  dem  Falle  22 
sein  muss,  geht  daraus  hervor,  dass  der  Patient  heute  noch  ganz  genau, 
ohne  irgendwie  von  mir  darauf  hingewiesen  worden  zu  sein  (wie  ich  es 
mir  überhaupt  zur  Hauptaufgabe  gemacht  habe,  stets  die  Patienten  nur 
erzählen  zu  lassen,  um  ja  nichts  in  sic  hineinzuexaminieren),  weiss,  dass 
er  als  4 jähriges  Kind  einem  etwas  älteren  Mädchen  an  die  Genitalien 
gegriffen  hat.  Nun  wird  man  mir  doch  ohne  weiteres  zugestehen,  dass 
ein  Tjähriges  Kind  diesen  Akt  von  allein  nicht  zum  ersten  Mal  aus- 
führt. Und  sollte  durch  irgend  einen  Zufall  ein  Kind  derartiges  thun, 


58 


gerade  so  wie  es  meinetwegen  nach  einem  glänzenden  Gegenstand  fasst, 
dann  wird  dies  doch  sicherlich  keine  sexuelle  Erinnerung  in  ihm  zurück- 
lassen. Nein,  hier  müssen  vor  dem  4.  Jahre  noch  \ orkommnissc  liegen, 
welche  die  Handlungen  im  4.  Jahre  nur  als  eine  Wiederholung  früherer 
erscheinen  lassen.  Auch  hei  diesem  Falle  ist  mit  der  Pubertät  die  Ab- 
wehr eingetreten,  er  hat  seitdem  eine  Aversion  gegen  alles  Sexuelle.  Sein 
Hauptleiden  besteht  darin,  dass  bei  jeder  Berührung  seiner  Genitalien 
Pollutionen  eintreten. 

Im  Fall  64  sind  5 Glieder  der  Familie  nervenleidend  und  die  Er- 
innerung, dass  Patient  in  der  frühesten  Jugend  schon  onaniert  habe,  ist 
ihm  sehr  deutlich;  seine  Brüder  hätten  genau  dasselbe  gethan.  AVer  ihn 
freilich  dazu  veranlasste,  weiss  er  nicht,  cs  ist  aber  sicher,  dass  eine 
vierte  Person  dieses  kleine  Trio  dazu  veranlasst  haben  muss  oder  zum  min- 
desten von  einem  älteren  Individuum  ausgehend,  die  psychische  Infektion 
sich  nach  und  nach  auf  die  einzelnen  Glieder  übertragen  hat.  Trotz 
seiner  27  Jahre  ist  er  seit  2 Jahren  impotent.  Die  Gründe  für  die  Im- 
potenz sind  also  hier  rein  hysterischer  Natur,  denn  da  er  sonst  ein  ge- 
regeltes Ehelebon  geführt  hat,  läge  kein  Grund  vor,  zumal  eine  organische 
Krankheit  nicht  auffindbar  war,  warum  auf  einmal  kein  Sexualreiz  bei 
ihm  möglich  sein  sollte.  Auch  hier  würde,  da  es  sich  um  einen  ver- 
hält nissmässig  intelligenten  Menschen  handelt,  eine  genauere  Analyse 
Aufschluss  über  die  Jugend  Vorkommnisse  und  deren  Folgen  geben. 

Den  Fall  80  halte  ich  für  einen  rein  hysterischen.  Sein  Sexual- 
verkehr ist  zur  Zeit,  ein  ganz  regelmässiger.  Jedoch  aus  den  beiden 
l'mständen,  dass  er  schon  als  kleines  Kind  Pollutionen  gehabt,  und  mit 
dem  8.  Jahre  bereits  mit  dem  Bruder  unsittliche  Spiele  gespielt,  ferner 
dass  er  jetzt  hauptsächlich  an  einer  circumscripten  Phobie  leidet,  die 
nur  beim  Sprechen  mit  Vorgesetzten  im  Dienst  auftritt,  aber  weit  über 
das  gewöhnliche  Maass  von  Aengstlichkeit  im  Subordinationsverhältnis 
geht,  ergiebt  sich,  dass  er  unter  Jugendeindrücken  steht,  die  jetzt  unter 
dem  militärischen  Abhängigkeitsverhältnis  wieder  zu  Tage  treten. 

Mischformen  von  anderen  Neurosen  und  Hysterie  finden  sich 
von  den  100  Krankengeschichten  in  14  Fällen.  Alle  will  ich  hier  nicht 
durchsprechen,  sondern  bloss  einige  besonders  hervorheben,  bei  denen 
sich  nach  weisen  lässt,  wie  auf  der  Basis  einer  Hysterie  durch  gewöhn- 
liche Schädlichkeiten  Mischformen  entstehen  können.  Als  hysterische 
Angstneurosen  finden  sich  zunächst  5 Männer  1,35,  43,  44,  00.  In 


59 


Fall  1 ist  eine  circumscripte  Angst  vor  Brücken  und  Fenstern,  eine  mit 
dem  jugendlichen  Alter  keineswegs  zu  rechtfertigende  sexuelle  Anästhesie 
und  dazukommend  seit  % Jahren  eine  frustrane  Erregung,  die  durch 
sexuelle  Träume  gekennzeichnet,  die  Symptome  einer  Angstneurose 
zufügt. 


Fall  35  hat  auch  als  Kind  schon  Erektionen  gehabt  und  zeitig 
masturbiert,  infolge  von  Abstinenz  sind  seit  einiger  Zeit  auch  hierzu 
Angstzustände  gekommen;  die  Symptome  von  abnormen  Sensationen  in 
einzelnen  Extremitäten  sind  hysterischer  Natur. 

Fall  43  hat  eine  deutliche  Erinnerung  aus  dem  3.  Lebensjahr.  An 
das  erste  Sexualvorkommnis  knüpften  sich  dauernd  neue  sexuelle  Reize; 
dann  kam  dazu  bis  zum  15.  Jahre  Masturbation.  Diese  Masturbation 
zeitigte  ncurasthenisehe  Erscheinungen,  die  aber  jetzt  durch  eine  Angst- 
neurose vollkommen  überlagert  sind.  Die  Impotenz  leitet  sich  aus  zwei 
Ursachen  her:  1.  aus  hysterischen  Jugenderinnerungen,  2.  aus  dem  Um- 
slande, dass  er,  der  selbst  48  Jahre  ist,  an  der  bedeutend  älteren  Frau 
keine  Befriedigung  mehr  findet.  Kaum  hatte  hei  ihm  die  Angstneurose 
eingesetzt,  so  warf  sie  sich  neben  den  allgemeinen  Angsterscheinungen 
auf  ein  hysterisches  Symptom,  das  er  selbst  als  ein  zwangsweises  lästiges 
Nachdenken  über  Namen  und  Aehnliches  bezeichnet. 

Fall  44  lässt  einen  im  10.  Lebensjahr  cingetretenen  Schreck  als 
provozierende  Ursache  erscheinen.  Nur  halte  ich  cs  für  zweifelhaft,  ob 
die  vor  dem  10.  Lebensjahr  begonnen«'  Masturbation  nicht  auf  andere 
Ursachen  zurückzu  führen  ist,  wie  ja  dieser  bedauernswerte  Junge  geradezu 
zum  Spielball  der  dummen  Witze  seiner  Mitbürger  gemacht  wurde.  In 
den  letzten  Jahren  hat  sich  zu  diesen  Jugenderinnerungen  Angstneurose 
hinzugesellt. 

Fall  90.  Dieser  Patient  hat  auch  auf  dem  Lande  als  kleines  Kind 
schon  sexuelle  Erregungen  durchgemacht.  Masturbation  dauerte  dann 
sehr  lange  an  und  in  der  Ehe  liess  er  sich  zuerst,  da  er  ganz  anästhetisch 
war,  von  der  Frau  masturbieren.  Seit  5 Jahren  unterbleibt  diese  Schäd- 
lichkeit und  an  Stelle  dessen  ist  ein  vollkommener  Mangel  an  Befriedi- 


gung beim  Coitus  interruptus  getreten. 

Die  weiblichen  Mischformen  von  Hysterie  und  Angst- 
neu rose  führen  uns  folgende  Fälle  vor: 

Im  Fall  56  handelt  es  sich  um  ein  Mädchen,  das  schon  mit  8 Jahren 
abnorme  Sensationen,  die  stets  sexueller  Natur  waren,  gehabt  hat.  Die 


60 


Erinnerungen  von  damals  sind  noch  heute  so  deutlich,  dass  ich  dieselben 
fast  für  den  eigentlichen  damaligen  Vorgang  supponieren  möchte.  Diese 
Sensation  hat  sie  auf  alle  mögliche  Art  zu  bekämpfen  gesucht.  Mit 
19  Jahren  begann  sic  dann  ein  Verhältnis  mit  einem  jungen  Mann,  der 
sie  zuerst  ganz  in  Ruhe  liess,  dann  aber,  da  der  \ erkehr  wegen  \ agi- 
nismus  unmöglich  war,  masturbiert  hat.  Nun  stellten  sich  alle  Symptome 
typischer  Neurasthenie  ein,  die  dann  nach  einer  Operation  auf  einige 
Zeit  verschwanden.  Nach  der  Operation  war  dann  der  regelrechte  Ver- 
kehr zwar  möglich,  wurde  aber,  um  einer  Conccption  vorzubeugen,  irre- 
gulär ausgeübt  und  gleich  traten  nun  bei  dieser  Kranken  angstneurotische 
Symptome  auf.  Charakteristisch  ist  ihre  Angabe,  dass  sic  sich  wohl 
fühlt,  wenn  sie  14  Tage  überhaupt  keinen  Umgang  mit  ihrem  Bräutigam 
gehabt  hat. 

Fall  60  zeigt  uns  ein  20jähriges  Mädchen,  welches  sich  sexuell  schi- 
zeitig  entwickelt  hat.  Sic  hat  dauernd  mit  einer  grossen  sexuellen  Li- 
bido zu  kämpfen,  die  bei  ihr  aber  Abstinenzerscheinungen  hervorruft, 
weil  sie  sich  durchaus  anständig  führt.  Ob  der  Fall  auf  den  Kopf  vor 
8 Jahren  irgendwie  damit  zusammenzubringen  ist,  muss  ich  hier  aus 
dem  einfachen  Grunde,  dass  die  Zeit  der  Fragestellung  zu  kurz  bemessen 
war,  dahingestellt  sein  lassen. 

No.  68  ist  ein  Fall,  der  wohl  häufig  Vorkommen  dürfte,  ln  der 
Jugend  Masturbation,  jetzt  vom  Manne  geschieden,  verträgt  die  Patientin 
die  Abstinenz  nicht. 

In  3 Fällen  fanden  sich  bei  Männern  Hysterie  und  Neur- 
asthenie: 


Fall  34  ist  eine  lange  ausführliche  Krankengeschichte  eines  typischen 
Hystericus,  bei  dem  die  subjectiven  Beschwerden  immer  genau  seinen 
schädlichen  Sexualbezichungcn  im  Laufe  der  Jahre  entsprochen  haben. 
Dieselben  sind  vorn  ausführlich  genug  beschrieben  worden,  so  dass  ich 
hier  nicht  noch  einmal  darauf  eingchcn  will.  Erwähnen  will  ich  hier 
nur,  dass  der  jetzt  anästhetische  Patient  jedes  Mal  nach  dem  Coitus 
masturbieren  muss,  um  sich  eine  völlige  Befriedigung  zu  verschaffen  und 
demzufolge  jetzt  auch  seine  Beschwerden  neurasthenischer  Natur  sind. 

Fall  37  hat  auch  eine  zeitige  Jugenderinnerung,  die  aber  schon 
etwas  verschwommen  ist.  Die  zwangsweise  Masturbation  hat  bei  ihm 
mit  dem  22.  Jahre  hysterische  Anästhesie  gezeitigt,  so  dass  er  jetzt,  um 
eine  Befriedigung  zu  erlangen,  wieder  zur  Masturbation  zurückgekehrt  ist. 


61 


Fall  87  ist  bereits  etwas  weiter  oben  unter  den  Hysterischen  be- 
sprochen worden. 

Fall  2 hat  iVngsterschcinungen  gehabt,  isl  verlobt  und  abstinent, 
gelegentlich  masturbiert  er  und  bekommt  dann  ncurasthenisehe  Sym- 
ptome hinzu. 

Fall  65  übt  mit  der  Frau  Coitus  intcrruptus,  da  ihn  aber  dies 
nicht  befriedigt,  masturbiert  er  ausserdem. 

Mischformen  von  Neurasthenie  und  Angstneurose: 

Fall  9 zeigt  eine  Frau,  die  jahrelang  Coitus  intcrruptus  gegen  die 
Conccption  ohne  Befriedigung  ausgeübt  hat.  Sie  hat  zwar  nicht  zuge- 
geben, dass  sie  masturbiert,  aus  ihren  Symptomen  aber  gehl  hervor, 
dass  sie  zur  Herbeiführung  einer  Befriedigung  Masturbation  betrieben  hat. 

Fall  15  ist  stets  längere  Zeit  abstinent;  wird  aber  dann  von  ihrem 
Manne  manchmal  masturbiert. 

Fall  79  zeigt  eine  so  einfache  Erklärung,  dass  ein  näheres  Ein- 
gehen darauf  gar  nicht  nötig  ist. 

Eine  Mischform,  die  Hysterie,  Angstneurose  und  Neur- 
asthenie aufweist,  ist  Fall  23.  Leider  war  dieser  Patient  nicht  im 
Stande,  genau  die  Zeiten  der  einzelnen  Phasen  in  seinem  Sexualleben  anzu- 
geben. W ir  könnten  sonst  die  3 Erscheinungen  bei  ihm  noch  besser  trennen. 

Unter  den  100  Fällen  befinden  sich  zwei,  die  ich  als  Tabes  angc- 
sprochen  habe,  einen  als  Hysterie  und  Tabes. 

Fall  27  und  69.  Bei  dem  einen  handelt  es  sich  hauptsächlich  um 
eine  Ejaculatio  praecox,  bei  dem  andern  um  eine  7jährige  sexuelle  voll- 
ständige Bedürfnislosigkeit.  Bei  beiden  ist  Lucs  in  der  Anamnese  an- 
geführt, der  eine  klagte  über  Schmerzen  nach  sexuellen  Erregungen,  der 
andere  hatte  Parästhesieen.  Beim  einen  fand  sich  somatisch  gar  nichts, 
beim  anderen  waren  Patellarreflex  und  Pupillenreflex  linkerseits  schwächer 
als  rechts.  Ich  habe  aus  dem  Fehlen  jeglicher  sexueller  Schädlichkeit 
nicht  beanstandet,  diese  Fälle  als  beginnende  Tabes  zu  bezeichnen. 

Der  Fall  83  zeigt  auch  vor  Jahren  eine  Lues  in  der  Anamnese, 
auch  hier  sind  Patellarreflexe  normal.  Früher  hatte  er  Schmerzen  in 
den  Beinen  gehabt,  jetzt  ist  er  impotent.  Auch  hier  halte  ich  eine 
Tabes  für  bestehend,  die  nebenbei  sich  auf  eine  Hysterie  aufbaut. 

Werfen  wir  noch  einen  Rückblick  auf  die  Mischformen  mit  sexueller 
Aetiologic,  so  scheint  es,  dass  bei  jüngeren  Leuten  (wenn  nach  verhält- 
nismässig mässig  betriebener  Masturbation  für  einige  Zeit  ein  normaler 


Verkehr  folgt)  dann,  wenn  der  Verkehr  wieder  aufhört,  die  Abstinenz 
gar  niehl  ertragen  und  gleich  wieder  dem  Drange  zu  masturbieren  Folge 
gegeben  wird;  während  bei  älteren  Personen,  wie  z.  B.  bei  Viltwcn 
zwischen  dem  30.  und  40.  Jahre,  die  in  ihrem  16.  oder  17.  Jahre 
masturbiert,  dann  aufgohört  und  nach  einigen  Jahren  geheiratet  haben, 
dann,  nach  dem  Tode  des  Mannes,  die  Abstinenz  etwas  länger  als  bei 
jüngeren  Individuen  ertragen  und  erst  nach  einiger  Zeit  Befriedigung  in 
der  Masturbation  gesucht  wird. 

Auch  fällt  es  auf,  dass  bei  solchen  Frauen,  die  durch  den  Coitus 
intorruptus  gar  keine  Befriedigung  haben  und  die  dann  zur  Erlangung 
einer  solchen  masturbieren,  bloss  die  Folgeerscheinungen  der  Masturba- 
tion auftreten.  Somit  könnte  bei  diesen  der  Coitus  interruptus  voll- 
kommen gestrichen  werden,  als  er  hier  gewissermaassen  nur  zu  den 
Präliminarien  der  sexuellen  Erregung  gehört,  und  diese  Frauen  genau  in 
derselben  Weise  erkrankt  wären,  wenn  sie  bloss  masturbiert  hätten,  um 
sich  dadurch  ihre  Befriedigung  zu  verschaffen,  wenn  der  Mann  durch 
irgend  einen  Umstand  veranlasst,  nicht  mit  ihnen  verkehrt  hätte.  Ander- 
seits weisen  gemischte  Symptome  von  Angstneurose  und  Neurasthenie 
darauf  hin,  dass  zeitweilig  zwar  durch  den  Coitus  interruptus  oder  Ab- 
stinenz oder  frustrane  Erregung,  kurz  und  gut  durch  Retention  der  Li- 
bido ein  pathologischer  Zustand  erzeugt  wird,  der  aber  nicht  jedes  Mal 
den  Patienten  veranlasst,  die  Befriedigung  in  der  Masturbation  zu  suchen. 
Dies  ist  eine  Frage,  die  ich  heute  noch  nicht  zu  beantworten  im  Stande 
bin,  ich  glaube  aber,  dass  die  ersterwähnten  Fälle  darin  ihre  Aufklärung- 
linden,  dass  bei  ihnen  die  Masturbation  eine  Zwangshandlung  ist,  die  in- 
folge tieferer  psychischer  Momente  ausgeführt  werden  muss. 

Ferner  geht  aus  den  Krankengeschichten  hervor,  dass  Angstsym- 
ptome nicht  das  alleinige  Krankheitsbild  vieler  Patienten  ausmachen,  cs 
kommen  bei  manchen  Schmerzen,  circumscriptc  Phobieen,  kurz  und  gut 
ncurasthenische  und  hysterische  Symptome  gemischt  mit  Angst  vor,  und 
wenn  wir  in  der  Anamnese  nachforschen,  erfahren  wir,  dass  bei  diesen 
Mischformen  auch  die  Actiologie  eine  gemischte  ist.  Ich  muss  hier  der 
Freud’schen  Ansicht  vollkommen  beipflichten,  dass  ein  Hysteriker,  wenn 
er  sich  in  der  Verdrängung  befindet,  wie  ein  anderer  normaler  Mensch 
Erscheinungen  von  Angstneurose  aufweisen  kann,  sobald  er  im  sexuellen 
Verkehr  eine  Retention  oder  mangelnde  Befriedigung  erfährt.  Ebenso 
kann  ein  Hysterischer  an  Neurasthenie  erkranken,  wenn  er  unter  irgend 


einem  Zwange  stehend  masturbiert  oder  sich  masturbieren  lässt.  In  der 
Analyse  begründet  sich  dann  der  Zwang  durch  ein  weit  zurückliegendes 
psychisches  Trauma,  während  die  neurasthcnischen  Symptome  nur  bis 
zum  Beginn  der  Masturbation  zurückreichen. 

Bei  dieser  Auffassung  der  Dinge  findet  man  auch  den  Schlüssel  zu 
der  Erscheinung,  dass  viele  Leute  mit  anstrengender  Thätigkeit  an  Angst- 
neurose erkranken.  Nehmen  wir  irgend  Jemanden  an,  z.  B.  eine  Tele- 
phonistin oder  einen  litterarisch  thätigen  Menschen,  so  werden  doch 
sicherlich  in  sein  Leben  durch  den  Beruf  eine  Menge  neuer  zum  Teil 
sexuelle  Vorstellungen  hineingetragen,  die  er  früher  bis  zu  dem  Grade 
gar  nicht  gekannt  hat.  Es  kommt  dies  nach  und  nach  einer  sexuellen 
Erregung  vollkommen  gleich,  die  dann,  wenn  der  Betroffene  ihr  keinen 
Ausgleich  bieten  kann,  zu  Angsterscheinungen  führt.  So  kann  auch  ein 
junges  Mädchen,  welches  in  irgend  welche  Lebensumstände  versetzt  wird, 
wo  sie  viel  mit  Angehörigen  des  anderen  Geschlechts  zu  thun  hat,  durch  die 
gewissen  Fährlichkeiten,  denen  sie,  wie  ja  nicht  abzuleugnen  ist,  ausgesetzt 
wird,  infolge  häufiger  frustraner  Erregung  eine  Angstneurose  bekommen. 

Betrachten  wir  nun  die  Eheleute,  die  im  regen  Coitus  intcr- 
ruptus  leben,  so  wird  derjenige  Teil  an  Angstneurose  erkranken,  bei 
dem  es  zu  keiner  Befriedigung  gekommen  ist.  Wird  der  Coitus  von 
Seiten  des  Mannes  aus  Rücksicht  auf  die  Frau  protrahiert,  so  wird  er 
erkranken,  beflcissigc  er  sich  dagegen  einer  dauernden  Rücksichtslosig- 
keit gegen  die  Frau  oder  tritt  bei  ihm  die  Ejaculation  sehr  zeitig  ein, 
dann  wird  die  Frau  die  Angstneurose  davontragen.  Es  kommen  natür- 
lieh  auch  Fälle  vor,  wo  die  Frau  wegen  mangelnder  Befriedigung  gleich- 
zeitig mit  dem  den  Coitus  interruptus  übenden  Manne  erkrankt. 

Noch  mehr  Beispiele  hier  anzuführen  ist  wohl  unnötig.  Es  genügt 
vielmehr,  noch  einmal  zusammenfassend  auszusprechen,  dass  Angst- 
neurose überall  da  auftritt,  wo  eine  Retention  der  Libido 
stattfindet,  während  reine  Neurasthenie  nur  infolge  von 
Masturbation  entstehen  kann. 

Es  wären  noch  die  Fälle  zu  betrachten,  die  keine  Sexualätiologie 
in  der  Anamnese  erkennen  lassen.  Hierhin  gehören  alle  die  Angst- 
neurotiker, die  infolge  von  Nachtwachen  oder  geistiger  Uebcranstrengung 
erkranken  oder  auch  z.  B.  die  nicht  seltenen  Kranken,  die  an  „Tropen- 
koller“ leiden.  Auch  diese  müssen  zu  den  Patienten  mit  Retention  der 
Libido  oder  kurzweg  als  sexuell  Abstinente  bezeichnet  werden.  Ver- 


64 


wunderlich  mag  dies  vielleicht  bei  dem  sogenannten  Tropenkoller  er- 
scheinen und  ich  führe  daher  ein  Beispiel  an,  aus  dem  der  Angstzustand 
sehr  gut  zu  erkennen  ist: 

Fs  war  ein  Herr,  der  in  die  Kolonieen  ging,  nachdem  er  zu  Hause 
regelmässigen  Sexual  verkehr  bei  normaler  Potenz  gehabt  hatte.  Infolge 
der  Hitze  und  der  in  allen  Körpergebieten  gesteigerten  Oxydation,  wie 
dies  ja  in  den  Tropen  der  Fall  ist,  nahm  der  Alkohol  verbrauch  bei  dem 
betreffenden  Herrn  etwas  zu.  Es  war  ihm  nun  in  den  ersten  Monaten 
absolut  nicht  möglich,  ein  geeignetes  Object  für  seine  Sexualbefriedigung 
zu  finden,  da  er  sich  weder  an  den  specifischen  Geruch  noch  den  Ha- 
bitus der  Negerinnen  gewöhnen  konnte.  Fr  lebte  so  über  ein  halbes 
Jahr  vollkommen  abstinent  und  bekam  alle  möglichen  allgemeinen  Angst- 
empfindungen,  in  denen  er  sogar  soweit  ging,  Leute  mit  denen  er  zu 
thun  hatte  schwer  zu  beleidigen.  Nach  und  nach  gewöhnte  er  sich  auch 
an  den  Umgang  mit  den  farbigen  Weibern,  trotzdem  ein  gewisser  Ekel 
nie  zum  Schwinden  kam,  also  eine  volle  Befriedigung  nie  stattgefunden 
hat.  Nach  seiner  Rückkehr  in  die  Heimat  waren  die  Angstanfälle  nach 
Regelung  seiner  Sexualbeziehungen  bald  geschwunden,  er  konnte  selbst 
nicht  begreifen,  wie  er,  der  sonst  ein  durchaus  ruhiger  und  taktvoller 
Mann  ist,  sich  in  der  Erregung  zu  solchen  Beleidigungen  hatte  hinreisson 
lassen  können. 

Es  erscheint  daher  auch  ganz  unnötig,  immer  wieder  neue  Formen 
der  „Neurasthenie“  aufzustellen,  wie  dies  erst  kürzlich  von  einem  fran- 
zösischen Autor  geschehen  ist,  der  in  Malariagegenden  eine  durch  Ma- 
laria hervorgerufene  Form  der  Neurasthenie  beobachtet  hat,  die  er 
Neurasthenie  palustre  nennt.  Wäre  es  nicht  vorher  notwendig  gewesen 
zu  untersuchen,  ob  zu  der  Malariainfektion  nicht  einfach  Abstinenz  oder 
sonstige  sexuelle  Schädlichkeiten  kommen,  die  dann  eben  dieses  merk- 
würdige Krankheitsbild  erzeugt  haben  V Ebenso  fand  ich  bei  einem  an- 
deren französischen  Autor  die  Bezeichnung  einer  „forme  circulaire  de 
la  neurasthenie“,  die  ganz  ähnlich  der  echten  Phobie  zirkulär  in  Pe- 
rioden auftritt.  Daraus  dass  der  betreffende  Verfasser  den  Verlauf  einen 
chronischen  nennt,  möchte  ich  doch  auch  schliessen,  dass  wie  in  vielen 
ähnlichen  Fällen  auch  hier  ein  sexueller  Hintergrund  vorhanden  ist, 
denn  es  hat  sich  ja  gezeigt,  dass  bei  dem  Aussetzern  der  Sexualnoxen 
eine  Besserung  eintritt,  die  dann  aber  verschwindet,  sobald  der  Kranke 
in  seinen  Fehler  zurückverfällt. 


Es  ist  recht  verlockend,  hieran  eine  Theorie  über  den  psychischen 
Aufbau  der  Neurasthenie  und  Angstneurose  zu  knüpfen;  ich  unterlasse 
dies  aber  an  dieser  Stelle,  weil  einerseits  diese  beiden  Erkrankungs- 
formen  unmöglich  ohne  eine  gleichzeitige  breite  Darstellung  der  Hysterie 
definiert  werden  können,  andererseits  aber  der  Zweck  dieser  Arbeit  nicht 
der  ist  Hypothesen  aufzustellen,  sondern  lediglich  die  täglich  vor  Augen 
tretenden  praktischen  Vorkommnisse  zu  besprechen. 

Bei  der  Durchsicht  der  Rubrik,  in  welcher  die  Heredität  ver- 
zeichnet ist,  muss  es  einigermaassen  befremden,  dass  nur  in  12  pCt.  der 
Fälle  von  den  untersuchten  Kranken  dahingehende  Angaben  gemacht 
wurden,  dass  irgend  welche  nervöse  Erkrankungen  in  der  Familie  vor- 
gekommen seien.  Ich  will  nun  gern  zugeben,  dass  gerade  bei  meinem 
Material  doch  noch  der  eine  oder  andere  Fall  bei  weiteren  Nach- 
forschungen eine  hereditäre  Belastung  aufweisen  würde,  ja  ich  bin  so- 
gar so  weit  gegangen  auch  die  sonst  nicht  unter  die  hereditären  Nerven- 
krankheiten gerechnete  Paralyse  mit  in  die  Berechnung  einzubeziehen. 
Trotzdem  weicht  der  Befund  wesentlich  von  dem  anderer  Untersuchcr, 
wie  z.  B.  Bi  ns  wanger’s,  ab.  Diese  Thatsache  giebt  mir  zu  zwei  Be- 
trachtungen Anlass;  zunächst  dass  die  Neurasthenie  und  Angstneurose 
lediglich  im  Sexualleben  des  Individuums  selbst  ohne  Einwirkung  der 
Vorfahren  begründet  ist,  ferner,  dass  dort,  wo  bei  Hysterischen  sich 
neurotische  Ascendenten  finden,  diese  nicht  einen  organisch  weniger 
widerstandsfähigen  Nachkommen  gezeugt  haben,  sondern  dass  sie  infolge 
ihrer  'eigenen  vom  Normalen  abweichenden  Sexualbeziehungen  eine 
„psychische  Infektion“  ausübten.  Dies  rückt  also  die  Heredität  als 
ursächliches  Moment  der  Neurosen  in  zweite  Linie,  nämlich  insofern, 
dass,  wenn  das  erkrankte  Individuum  in  einer  sexuell  ganz  intakten  Um- 
gebung aufgewachsen  wäre,  keine  Neurosen,  trotz  schwer  nervöser  Vor- 
fahren, sich  im  späteren  Leben  bei  ihm  entwickelt  hätten. 


Im  Vorstehenden  habe  ich  versucht  darzulegen,  wie  aus  Unregel- 
mässigkeiten im  Sexualleben  Beeinträchtigungen  des  Nervensystems  her- 
vorgehen, und  hoffe  hierfür  in  den  mitgeteilten  Krankengeschichten  über- 
zeugendes Material  geliefert  zu  haben.  Es  hat  sich  mir  bis  jetzt  immer 
auch  in  anderen  Fällen  bestätigt,  dass  den  Neurosen  eine  sexuelle  Schäd- 

Gattel,  Sexuelle  Ursachen  der  Neurasthenie.  5 


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liehkeit  zu  Grunde  lag.  Und  dort,  wo  scheinbar  Ueberanstrengungen, 
Anämie,  Sorgen,  geistige  Ueberarbeitung  etc.  die  ursächlichen  und  vom 
Kranken  zunächst  angegebenen  krankmachenden  Momente  waren,  zeigte 
sich  bei  genauerer  Nachforschung,  dass  schon  vorher  im  Geschlechts- 
leben irgend  etwas  nicht  in  Ordnung  war,  und  die  Krankheit  wohl  durch 
das  Hinzutreten  der  äusseren  Noxen  ausgebrochen,  nicht  aber  veranlasst 
war.  Ich  glaube  daher  annehmen  zu  müssen,  dass  in  solchen  Fällen, 
wo  ein  absolut  normales  Geschlechtsleben  vorliegt  und  sich  ausser  den 
eben  angeführten  sekundären  Momenten  gar  nichts  anderes  findet,  man 
mit  der  Diagnose  einer  Neurose  sehr  vorsichtig  sein  müsse,  ja  dass 
sogar  dann  die  Vermutung  zur  Bestätigung  wird,  dass  es  sich  um  ein 
organisches  Leiden  handelt,  welches  vielleicht  noch  nicht  oder  nur  sehr 
schwer  diagnostiziert  werden  kann. 

Es  ist  aber  auch  natürlich,  nachdem  wir  die  Ursache  einer  Erkran- 
kung ermittelt,  uns  zu  fragen,  welchen  therapeutischen  Weg  wir 
einzuschlagen  haben.  AVie  steht  es  hiermit  nun  bei  den  Neurosen? 
Kaum  in  einem  anderen  Zweige  der  Medizin  sind  so  viele  Mittel  vorge- 
schlagen worden,  und  kaum  an  anderer  Stelle  sicht  man  die  Machtlosig- 
keit medikamentöser  Behandlung  so  ein,  wie  gerade  bei  den  Neurosen. 
Die  erste  Forderung  ist  zunächst,  dass  von  beiden  Seiten  eine  volle 
Offenheit  herrsche.  Der  Patient  darf  sich  nicht  schämen  über  sein  Ge- 
schlechtsleben zu  sprechen  und  der  Arzt  nicht  zu  prüde  sein  ihn  danach 
zu  fragen.  In  vielen  Fällen  ahnt  der  Kranke  ja  von  selbst,  wo  ihn  der 
Schuh  drückt  — manchmal  will  er  sich  darüber  hinwegtäuschen  lassen, 
und  selbst  Mut  aus  der  Erklärung  des  erfahrenen  Arztes  schöpfen,  dass 
sein  Leiden  z.  B.  von  Ueberanstrengung  herrühre,  — manchmal  aber 
bedarf  er  eines  treuen  Ratgebers,  der  ihm  über  sein  Leiden  hinweghilft 
und  der  nicht  selbst  an  falscher  Aengstlichkeit  leidet  wie  der  Kranke; 
er  sucht  im  Arzt  einen  objektiven  Beurteiler  seiner  Krankheit.  Ist  die 
Schädlichkeit  aber  aufgedeckt,  insofern  der  Arzt  sie  überhaupt  versteht 
und  aus  den  einzelnen  Symptomen  die  krankmachende  Ursache  erkennen 
kann,  so  ist  damit  noch  lange  nicht  der  Kampf  gegen  das  Jahre  lang 
andauernde  Uebel  gewonnen.  Die  Erkenntnis  ist  zwar  der  erste  Schritt 
zur  Genesung  und  der  Kranke  wird  sich  sicherlich  Mühe  geben,  dem 
Rate  des  Arztes  folgend,  sein  Sexualleben  wieder  in  normale  Bahnen  zu 
lenken,  bis  er  aber  wieder  ganz  LIerr  seiner  Energie  ist,  vergeht  immer- 


hin  einige  Zeit,  während  welcher  er  rückhaltlos  über  sein  Sexualleben 
Mitteilung  machen  muss  und  oft  eine  Stütze  nötig  hat.  Erst  nach  und 
nach  wird  er  wieder  auf  eigenen  Füssen  stehen  können  und  der  Erfolg 
dieser  Behandlung  wird  nicht  ausbleiben. 

Hat  es  daher  einen  Sinn  zu  erwägen,  ob  dieses  oder  jenes  Alkaloid 
mehr  zu  empfehlen  ist,  in  welcher  Dosis  jenes  neue  Sedativum  anzu- 
wenden ist'?  Jeden  ehrlichen  Arbeiter  wird  die  Zwecklosigkeit  all’  der 
gegen  Neurasthenie  etc.  empfohlenen  Medikamente  oft  geärgert  haben. 
Und  ist  es  denn  anders  mit  den  übrigen  therapeutischen  Maassnahmen? 
Der  Erfolg  eines  Landaufenthaltes,  einer  Reise  etc.  liegt  nicht  bloss  in 
der  veränderten  Umgebung.  Wo  ein  Heileffekt  erzielt  worden  ist,  rührt 
er  lediglich  von  den  veränderten  Sexualbeziehungen  her.  Soll  ich  erst 
Beispiele  anführen,  dass  Mütter,  die  mit  ihrem  Manne  den  Coitus  inter- 
ruptus  pflegen,  sich  in  einem  Bade,  wo  nur  Damen  sind,  wunderbar  er- 
holen, zur  Nachkur  mit  dem  Manne  in  einem  Sccbadc  Zusammentreffen, 
dort  wieder  den  schädigenden  Geschlechtsverkehr  aufnehmen,  bald  wieder 
erkranken,  und  dann  nie  wieder  an  die  See  gehen,  weil  sic  die  starke 
Seeluft  nicht  vertragen  haben?  Oder  soll  ich  die  wunderbaren  Erfolge 
erwähnen,  die  ein  Neurastheniker  in  einer  Kaltwasserheilanstalt  erfährt? 
Dort  ist  er  den  ganzen  Tag  mit  therapeutischen  Maassnahmen  beschäf- 
tigt, Abends  schläft  er  womöglich  schon  stehend  ein,  und  wenn  er  dann 
heimkommt,  beginnt  auch  er  wieder  sein  verkehrtes  Sexualleben,  und 
siehe,  die  Wasserbehandlung  hat  nicht  lange  genug  nachgehalten.  Im 
nächsten  Jahre  reist  er  mit  einem  Freunde,  wiederum  geht  es  ihm  gut, 
und  kaum  ist  er  einige  Wochen  zu  Hause,  so  ist  auch  sein  altes  Leiden 
wieder  da,  natürlich  ist  dann  sein  Geschäft  etc.  daran  Schuld,  weil  nun 
ja  alle  ärztlichen  Verordnungen  durchprobiert  worden  sind. 

Eine  schlimme  weitere  Folge  ist  aber  die,  dass  die  Kranken,  die 
von  einem  Arzte  zum  andern  gegangen  sind,  von  denen  keiner  ihn  nach 
seinem  Sexualleben  gefragt  hat  und  von  denen  keiner  ihm  also  geholfen, 
auch  den  Glauben  an  die  ärztliche  Kunst  nicht  allein  in  den  functioneilen, 
sondern  auch  den  organischen  Erkrankungen  verlieren. 

Solange  man  die  wirklichen  Ursachen  der  Neurosen  nicht  kennt, 
darf  man  es  Niemandem  verübeln,  wenn  er  nach  bestem  Wissen  und 
Können  dem  Patienten  irgend  ein  Surrogat  giebt,  hat  man  sich  aber 
selbst  von  dem  gewaltigen  Einfluss  der  Sexualität  auf  die  Nerven- 


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Störungen  überzeugt,  so  erfordert  es  die  Aufrichtigkeit,  den  Kranken 
darauf  hinzuweisen.  Ist  aber  hierfür  der  einzelne  Arzt  verantwortlich? 
Jeh  glaube  nicht. 

Es  ist  die  Neigung  unserer  Zeit,  alles  Sexuelle  möglichst  zu  ver- 
decken und  demjenigen,  der  es  wagt  frei  und  offen  über  das  Geschlechts- 
leben zu  sprechen,  unlautere  Motive  unterzuschieben  oder  ihn  für  be- 
rechnend zu  halten.  Ist  cs  nicht  eher  unlauter,  das  als  wahr  Erkannte 
zu  verschweigen  und  trotz  besseren  Wissens  alte  vorgetretene  Bahnen 
weiter  zu  wandeln? 


Gedruckt  bei  L Schumacher  in  Berlin.